Honigtot (German Edition)
Ottilies Wünschen. Damit schien die Angelegenheit für sie beide erledigt. Das dachten sie zumindest.
Kapitel 7
Die Ehegatten bewohnten zehn Zimmer im letzten und vierten Stockwerk des 1901 erbauten Jugendstilpalais am Rande des Prinzregentenplatzes, das Gustav von seinen Eltern geerbt hatte. Er besaß noch einen Bruder, einen mäßig erfolgreichen Maler, der mit seiner Frau in Nürnberg lebte.
Die Praxisräume des Hausherrn lagen im Parterre. Ihre drei Bediensteten - neben Ottilie waren das die Köchin Bertha und der Hausdiener Hans - hatten ihre eigenen Kammern auf dem Spitzboden unter dem Dach.
Das erste Stockwerk hatten immens reiche Amerikaner gemietet, an die sich niemand mehr im Haus richtig erinnern konnte, weil sie schon ewig nicht mehr da gewesen waren, zuletzt zwei Jahre vor dem Großen Krieg, wie Ottilie beteuerte. Die Miete und die anteiligen Auslagen wurden jedoch weiterhin regelmäßig auf Gustavs Bankkonto entrichtet.
Der zweite Stock stand ebenfalls seit vielen Monaten leer und das würde aufgrund der gegenwärtigen Wirtschaftskrise sicherlich noch länger so bleiben. Im dritten residierte ein pensionierter General, der so alt war, dass man ihn bereits 1914 nicht mehr hatte haben wollen. Eine immense Ungeheuerlichkeit, wie er selbst lautstark vertrat, wenn man das Pech hatte, ihm im Treppenhaus in die Arme zu laufen. Dann konnte man beinahe den Eindruck gewinnen, dass er den Krieg im Alleingang für Kaiser Wilhelms Deutschland entschieden hätte. Tatsächlich war er eine lebende Requisite aus dem 19. Jahrhundert. Zu seinen Versatzstücken gehörten - außer, dass er marschierte, als würde er noch immer hinter Trommel und Querpfeife herziehen -, ein Monokel, ein Gehstock, ein Gehrock, ein Zylinder und eine ganze Phalanx an Orden, die stolz an seiner eingefallenen Brust prangten.
Böse Zungen, zu der die von Ottilie zweifellos zählte, behaupteten, dass er sie des Nachts auch an seinen Schlafrock heftete. Das Beste aber an dem General war, dass er so gut wie taub war; solcherart Nachbarn waren bei Musikern gern gesehen - ebenso wie abwesende Amerikaner.
Kapitel 8
Es war der Pfarrer, welcher auch gleichzeitig der Chorleiter der bescheidenen Kirche St. Leopold im 2. Wiener Außenbezirk war, der einst die ersten Schicksalsweichen für das zehnjährige Schusterkind Elisabeth gestellt hatte.
Von der ersten Sekunde an war er von ihrer reinen Stimme gefangen genommen, die seinen kleinen Chor adelte. Nicht lange und es sprach sich in dem Viertel herum, dass in der Kirche ein Engel Gottes sang; niemals zuvor hatte seine Kirche mehr Zulauf bekommen. Bald standen die Menschen bis nach draußen an und warteten geduldig, um dem Kind zu lauschen.
So geschah es, dass ein Passant einen Freund auf das Mädchen aufmerksam machte. Dieser Freund war in der Welt der Musik bekannt und von großem Einfluss. Bald lauschte dieser Jemand höchstpersönlich der einmaligen Stimme und prophezeite Elisabeth eine große Karriere. Er arrangierte für sie ein Vorsingen am Mozarteum in Salzburg. Elisabeth fuhr mit ihren Eltern hin und erhielt noch im selben Jahr ein Stipendium.
Der Abschied von ihren Eltern war herzzerreißend, aber die Entscheidung richtig. Bereits Ende 1920, mit gerade einmal zwanzig Jahren, debütierte Elisabeth in Salzburg unter dem Mädchennamen ihrer Mutter, Malpran - der Name Kasegger erschien für die künstlerische Karriere eher ungeeignet -, als Marguerite in Gounods Faust.
Erste Berühmtheit erlangte sie in ihrer Rolle als Desdemona in Verdis Othello nur ein knappes Jahr später, anlässlich ihres Debüts an der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Von dort aus begann sie ihre internationale Karriere, die sie über die Stationen Mailand, Paris, Brüssel und Rom führen sollte. Ein neuer Stern war am Opernhimmel aufgegangen.
Kapitel 9
Der Doktor kehrte erst am frühen Morgen zurück, bleich, müde und mit dunklen Bartstoppeln. Es war tatsächlich eine Steißgeburt gewesen, eine Mühsal für jeden Arzt, allerdings nie so sehr wie für die werdende Mutter.
Darum kam das Thema der fehlgeschlagenen Revolution erst wieder am nächsten Tag zur Sprache; der Doktor hatte nach kaum zwei Stunden Schlaf früh in die Praxis gemusst, während die Dame des Hauses noch ruhte. Nun traf man sich zum gemeinsamen Mittagsmahl im Speisesalon.
Zum Missfallen seiner Gattin rührte Gustav dieses kaum an, sondern verschwand sogleich hinter seiner Pflichtlektüre,
Weitere Kostenlose Bücher