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Honigtot (German Edition)

Honigtot (German Edition)

Titel: Honigtot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanni Münzer
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Ursprung einfach und verständlich geschaffen: Gut ist die einfache Logik des Geistes und man nennt sie Vernunft. Böse ist ein langer verderblicher Umweg und man nennt ihn Dummheit. Diese klare Weisheit lebt noch kurz in den Kindern nach, aber wenn sie dann erwachsen werden, so vergessen sie es.“
    Sein Sohn war noch sehr klein, aber er hatte schon ein waches Verständnis für die Geschehnisse um sich herum und ein natürliches Gefühl für Unrecht, davon zeugten seine Fragen. Wie so oft bedauerte es Gustav, dass man eigentlich schon als Kind all die richtigen Dinge wusste, sie aber später als Erwachsener nicht mehr verstand oder verstehen wollte und deshalb bald kaum mehr eine Erinnerung daran bewahrte.
    Kinder waren für Gustav der Beweis, dass die Evidenz der Vernunft existierte. Und Erwachsene waren der Beweis, wie man einfache Wahrheiten verkomplizieren und verdrehen konnte, bis sie so ganz und gar in sich verbogen waren, dass hinterher niemand mehr zu sagen wusste, wie sie einmal waren. Darüber gibt es viele Klagen und Kriege.
     
    * * * * *
     
    „Erzähl mir noch einmal die Geschichte von Adam und Eva und der ersten Ameise, Papa“, forderte ihn Wolferl an Gustavs letztem Abend in München auf.
    Er hatte sie schon mindestens ein dutzend Mal gehört, aber Gustav freute sich darüber, dass sein Sohn sie so gerne hörte und begann zu erzählen:
    „A dam und Eva waren die ersten Menschen, die Gott geschaffen hat, und ihr Zuhause war das Paradies. Eines Tages gingen die beiden wie so oft spazieren. Da erblickte Adam plötzlich einen kleinen schwarzen Punkt auf der Erde, der sich bewegte: Das war die Königin Moriah, die erste Ameise. Adam beobachtete sie eine ganze Weile interessiert, wie sie scheinbar ziellos im Gras umherirrte. Dann hob er seinen großen nackten Fuß und trat auf sie, bis sie sich nicht mehr bewegte.
    Und Eva fragte: „Warum tust du das, Adam?“
    Und Adam antwortete: „Weil ich es kann.“
    Später kamen sie an den Baum der Erkenntnis, der viele schöne rote Früchte trug, die anzurühren Gott ihnen streng verboten hatte. Eva pflückte sich jetzt trotzdem einen Apfel und bot ihn Adam an. Adam erschrak, weil er an Gottes Verbot dachte und fragte: „Warum tust du das?“
    Und Eva antwortete ihm: „Weil ich es kann.“
    Gott wurde daraufhin sehr böse und er verjagte Adam und Eva aus dem Paradies. Die beiden jammerten und klagten und sie fragten Gott: „Warum tust du das?“
    Und Gott antwortete ihnen: „Weil ich es kann.“
    „ Gott schuf noch weitere vielfältige Arten“, fuhr Gustav fort. „Und die Ameisen unter ihnen waren sehr zahlreich. Doch im Gedächtnis der Ameisenvölker lebt bis heute weiter, dass ihre erste Königin Moriah einst von dem ersten Menschen getötet wurde. Darum tragen seit dem ersten Tag der Menschheit die Ameisen den gleichen Gottesfluch wie wir in sich. Die Menschen und die Ameisen sind die einzigen Lebewesen auf dieser Erde, deren Völker untereinander Krieg führen.“
    Wolferl war nach der Geschichte immer sehr still und schlief dann über seinen Gedanken um den Lauf der Welt ein.
    Gustav blieb noch eine ganze Weile am Bett seines Sohnes sitzen. Es war von Hand geschnitzt - bereits er und vor ihm sein Vater hatten darin gelegen. Er stellte sich vor, wie sein Vater einst an diesem Bett gesessen und er der kleine Junge darin gewesen war. Wolferls Sohn würde, wenn er einen haben würde, in einem anderen Bett ruhen. Langsam fuhr Gustav mit seiner Hand über das polierte Holz, das bereits sein Vater berührt hatte, folgte den Spuren seiner Maserung und nahm Abschied von seinem alten Leben. Er fand seinen Frieden schließlich in der Gewissheit, dass er das Kostbarste mitnehmen würde: Seine Familie.
    Er betrachtete seinen schlafenden Sohn und sein Herz zog sich vor Liebe zusammen. Auf dem Nachttisch lag eine zerfledderte Ausgabe von Karl Mays Old Shatterhand. Wolferls Mund zuckte und Gustav fragte sich, wovon sein Sohn gerade träumte. Von Cowboys und Indianern, von Helden und Banditen? Wolferls junge Welt war noch klar in Schwarz und Weiß unterteilt. Die Farben von Hass und Gier, von Niedertracht und Intoleranz blühten noch nicht in seiner Fantasie. Gustav wollte ihn so lange wie möglich davor schützen. So wie sein Vater ihn davor beschützt hatte.
    Gustav war zwar als Sohn jüdischer Eltern geboren worden, doch er definierte seine Identität nicht über den Zufall der Geburt. Seine Familie war seit beinahe zweihundert Jahren in München ansässig. Der

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