Honigtot (German Edition)
Wolferl mit einem ernsten Nicken, das so gar nicht zu seinem Alter passen wollte. Elisabeth blieb verblüfft der Mund offen, denn in der Tat stand es so im Evangelium des Lukas. Jesus, am Kreuze hängend, entschuldigt mit diesen letzten Worten seine Peiniger vor seinem Gottvater: „ Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. “
Ein weiteres Geschenk - überreicht durch Ottilie, der Bibelfesten.
„Sind dumme Menschen denn immer böse, Mama? Ottilie sagt, dass Bertha dumm ist, aber ich finde nicht, dass sie böse ist.“
„Bertha ist nicht böse, aber Ottilie ist sehr geschwätzig. Aber du hast auch Recht, mein Schatz. Das ist das Geheimnis des Bösen. Es findet immer einen Weg in die Seelen der Menschen. Und jetzt schlaf, mein Spatzerl.“
Elisabeth hätte sich jetzt liebend gerne davongestohlen, bevor ihr Sohn sie in noch mehr philosophische Dispute verwickelte, die eigentlich das Pflaster ihres Gatten waren.
Doch das Wolferl war noch nicht am Ende: „London ist auch ein Geheimnis, nicht wahr, Mama?“
Jetzt blieb Elisabeth wirklich fast das Herz stehen - denn von London hätte Wolferl nun wirklich überhaupt nichts wissen sollen und Ottilie, der Geschwätzigen, standen gleich noch einige äußerst unangenehme Momente bevor.
Sie küsste Wolferl ein weiteres Mal auf die Stirn und sagte: „Ja, London ist auch ein Geheimnis. Du darfst darum niemandem davon erzählen, hörst du, Wolferl? Gibst mir dein Ehrenwort darauf?“
Und Wolferl hob die Hand zum Schwur und sprach feierlich:
„Großes Indianer-Ehrenwort!“
* * * * *
Aber natürlich beschäftigte das Wolferl London ganz und gar und er schlief dann lange noch nicht ein. Er hätte gerne gewusst, wo das geheimnisvolle London lag, aber Ottilie hatte ihm da nicht weiterhelfen können und nur etwas von einer nassen Insel im Meer gefaselt.
Aber er hatte auch noch aufgeschnappt, dass sie vielleicht für immer dorthin gehen würden und darum hatte er vor einigen Tagen von seinem Vater wissen wollen, wie lange `für immer´ denn bedeuten würde?
Und der Vater hatte ihm mit einem leisen Lächeln geantwortet, dass dies sicherlich so lange wäre, bis ihm, dem Wolferl, der erste Bart stehen würde.
Das schien für Wolferls kaum fünf Jahre währendes Universum eine wirklich unvorstellbar lange Zeit zu sein. So wie das ferne Ziel London für ihn in einer anderen Dimension existierte.
In seiner Welt war alles noch abstrakt bemessen, egal ob es Gefühle oder Distanzen betraf, und sein Vater war darüber froh, denn er hoffte, dass das Kind, das seine Heimat verlieren würde, so weniger Schaden nehmen würde.
Elisabeth, die ihren Sohn längst schlafend wähnte, ging in ihr Musikzimmer und setzte sich ans Klavier. Sie klimperte ein paar Takte und seufzte schwermütig, weil die Musik, die ihr sonst auf verlässliche Weise immer Frieden schenkte, ihr diesen Dienst heute versagte.
Ruhelos wanderte sie in dem Raum umher. Unfähig, ihren Geist zu besänftigen, lief sie mehrmals zu der Fernsprechapparatur im Flur, die 1929 Einzug gehalten hatte. Sie nahm den Hörer ab und überprüfte seine Funktion. Wann würde der erlösende Anruf von Gustav kommen?
Er musste vor ungefähr einer Stunde in Zürich angekommen sein. Vermutlich hatte der Zug Verspätung oder er bekam nicht gleich ein Taxi oder wurde an der Rezeption des Hotels aufgehalten, es gab kein Zimmer, der Fernsprechapparat im Hotel war kaputt oder besetzt. Dies und noch einige tausend Möglichkeiten mehr passierten ihrem Gustav gerade in ihrem Kopf - Dinge, die dem Gesetz nach schiefgehen konnten, wenn jemand dringend einen Anruf tätigen wollte.
An das Schlimmste jedoch, das geschehen sein konnte, nämlich dass man ihren Gustav mit den falschen Papieren im Zug verhaftet hatte, daran dachte sie nicht. Ganz einfach, weil sie nicht daran denken wollte . Aber natürlich wartete diese Möglichkeit ganz klein in ihrem Hinterkopf - ein leises lauerndes Summen, jederzeit bereit, den Ton aufzudrehen und sie in Angst und Schrecken zu versetzen.
Elisabeth blieb die ganze Nacht auf, doch der ersehnte Anruf kam nicht. Stunde um Stunde verharrte sie in beschwörender Selbstbeschwichtigung, redete sich ein, dass es sicherlich zu spät geworden war und Gustav mit seinem Anruf die Kinder nicht hatte wecken wollen. Erschöpft klammerte sie sich daran, dass sein Anruf sicherlich gleich am Morgen erfolgen würde.
Es wurde sieben, dann acht, dann neun Uhr, doch Gustav rief nicht an. Die lauernde
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