Honky Tonk Pirates - Der letzte Horizont: Band 6 (German Edition)
wissen, dass es sie gab. Doch die Gefahr, vor der sich Talleyrand fürchtete, kam weder von den Soldaten noch den Einwohnern der kleinen Dörfer. Sie kam aus der Luft. Ständig blickte Talleyrand in die Höhe. Er suchte im Schwarz zwischen den funkelnden Sternen nach etwas, das er nicht ausmachen konnte, das er nicht verriet, und je höher sie in den Bergen Richtung Hauptstadt hinaufstiegen, desto größer wurde seine Furcht.
»Ab jetzt werden wir nur noch tagsüber gehen und nachts werden wir uns verstecken«, verkündete er ohne Erklärung. Und weil es noch mühsamer war, tagsüber nicht gesehen zu werden, kamen die drei nur langsam voran.
Zehn anstatt dreißig Kilometer legten sie jetzt täglich zurück und so lag Mexiko Stadt erst am Abend des 28. Tages vor ihnen auf der Hochebene des beeindruckenden Tals. Die Sonne versank hinter der Stadt und ließ die Seen, Felder und Sümpfe wie Rubine erstrahlen. Will dachte noch einmal an Hannahs Schleier, den sie in Old Nassau getragen hatten. Auch den hatten rote Rubine geschmückt. Doch anstatt dabei in Wehmut und Trauer zu versinken, nahm er das als ein weiteres Zeichen, dass er sich auf dem richtigen Weg befand. Dem Weg, den ihm die Hexe Jay-Nice-Jo-Pi-Lin auf Rum Bottle Bottom gewiesen hatte und den er Aweiku beim Abschied auf der Insel des Vergessen Volkes versprochen hatte, zu gehen. Er würde die Welt von ihren schlimmsten Geißeln befreien: von Misstrauen, Lüge und Verrat. Selbst wenn er dafür jetzt in die Hölle gehen musste.
In dieser Nacht schlugen sie ihr Lager abseits der Straße unter einem von Büschen fast gänzlich verborgenen Felsvorsprung auf. Das war ihr sicherstes Versteck seit Tagen, in denen sie, oft nur von Erde, Blättern und Rindenmull bedeckt, in flachen Bodenmulden schlafen mussten. Trotzdem war der Baron ner vöser als sonst. Er wälzte sich unruhig hin und her. Er stöhnte im Schlaf und stieß irgendwann einen unerträglichen, unmenschlichen Schrei aus.
Will fuhr aus dem Schlaf hoch und starrte erschrocken in Gaggas Gesicht, der auf Talleyrands anderer Seite saß und den Baron neugierig beobachtete.
»Deinen Schlaf möchte ich haben«, seufzte der Prinz mit unverhohlenem Neid. »Können bei euch, ähm, ich meine, bei den Piraten, alle so fest und unerschütterlich schlafen?«
»Nur die, die aufrichtig sind und nicht vorgeben, jemand anders zu sein, als sie sind.«
Talleyrand schrie schon wieder.
Gagga hielt sich die Ohren zu: »Das ist ja nicht auszuhalten!«
»Ja, das muss fürchterlich für ihn sein.« Will riss ein Stück von seinem Hemdsärmel ab, befeuchtete das Tuch und kühlte damit Talleyrands schweißnasse Stirn. Er sah den Baron mitfühlend an.
Der klammerte sich an Wills Handgelenk und winselte dabei wie ein sterbender Hund.
»Hast du keine Angst, dass man das auch mit dir macht?«, fragte Gagga entsetzt. »Das, was man mit ihm gemacht hat?« Er musterte Will, und der spürte, wie der Schweiß auf seinem Rücken gefror.
Und ob er sich fürchtete. Er starb fast vor Angst. Er hätte am liebsten noch lauter geschrien als der Schwarze Baron, dessen Kopf jetzt auf seinen Knien lag. So schwer wie ein Amboss.
»Und wenn du solche Angst hast, weshalb kannst du dann schlafen?«
Will hörte Gaggas Frage trotz des Dröhnens in seinem Kopf, das der rasende Herzschlag in ihm erzeugte. Eine solche Frage hatte er sich noch nie gestellt. Er hatte nie nachgedacht. Er hatte sich einfach immer ins Abenteuer gestürzt. Dieser Kick war eine Sucht, und er vertraute dabei felsenfest darauf, dass er für sich immer einen Ausweg fand.
Doch jetzt umklammerte Talleyrand seine Hand. Er wimmerte, stöhnte und schrie noch mal auf. Lauter als vorher.
Gagga sprang auf. Er stürzte panisch aus der Höhle. »Ich halt das nicht aus! Hör auf zu schreien!« Doch dann schrie auch er. »Will! Oder nein, Gabi! Das ist nicht wahr. Das gibt es nicht, hört ihr! Ich rate euch eins: Bringt euch auf der Stelle um! Ja, bringt euch jetzt um, damit ihr das hier nicht mehr seht!«
Zwei dumpfe Schläge brachten Gagga zum Schweigen. Danach war es still.
Zu still, dachte Will und spürte, wie sich der Griff des Barons an seinem Handgelenk lockerte. Er schaute Talleyrand an. Der war jetzt wach. Der Albtraum war für ihn zu Ende. Doch er sah nicht so aus. Er sah eher aus, als wäre er von einem schrecklichen Traum in einen noch schrecklicheren geflohen.
»Sie sind da. Du musst gehen«, sagte er leise und schwach. »Das ist wichtig, hörst du. Lass sie dich nicht
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