Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
Vorsichtig verlagerte er sein Gewicht auf die Arme und sah Susan an, das Gesicht verkrampft von dem frischen Schmerz, den ihm selbst diese leichte Bewegung bereitete. »Ein paar Minuten kann ich mich aufrecht halten. Such mir eine Stütze, Sooze.«
»Ich … Also gut. Beweg dich aber nicht!«
Sie rutschte vorsichtig rückwärts, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass er in der Tat ohne ihre Hilfe aufrecht sitzen konnte, begann sie zwischen den Trümmern zu stöbern. Rasch hatte sie mehrere Skier gefunden, einschließlich eines ihrer eigenen, und schleifte sie zu Ranjit. Nach wenigen Sekunden hatte sie entdeckt, dass sie die Skier am besten zwischen zwei Haltestangen einklemmte, an denen sich stehende Passagiere während des Fluges festhalten konnten. Eine der Stangen war mittlerweile recht stark verbogen. Ranjit ließ sich gegen die improvisierte Lehne sinken und ächzte erleichtert.
»Toll, Sooze. Einfach großartig. Jetzt geh.«
Sie nickte nur, denn sie traute ihrer Stimme nicht, und kroch langsam auf die sich noch immer regende Hand zu. Susan musste sich ihren Weg mit Vorsicht suchen, denn der Boden der Liftkabine war sehr wellig und hatte Risse, in denen sie bis zu den Hüften versunken wäre, und wegen des schwachen Lichts vermochte sie kaum etwas zu erkennen. Außerdem, und das war noch schlimmer, hatte sie den Eindruck, dass die Kabine bebte. Sie sagte sich, dass sie sich das nur einbilde, denn die Gondel liege unverrückbar unter einer unermesslichen Schneemasse begraben. Unter so viel Gewicht konnte sie sich überhaupt nicht bewegen! Trotzdem kam es Susan anders vor, und ob es nun echt war oder eingebildet: Das Beben – ein Zittern wie eine unterdrückte Bewegung – trug nur umso mehr zu dem Entsetzen bei, das gegen ihre mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung anbrandete.
Als sie endlich den Baumstamm erreichte, ermahnte sie sich noch einmal, nur nicht an die geschundenen Menschenleiber oder an den Blutgeruch zu denken. Während Susan sich der Hand näherte, sperrte sie ihr Bewusstsein in eine winzige harte Schale, eine gepanzerte Zitadelle, in der nichts es berühren konnte. Sie konzentrierte sich auf das, was sie zu tun hatte, weil es sein musste. Ranjit konnte nichts unternehmen, und damit blieb sie als Einzige übrig.
Die Hand war klein, nicht viel größer als ihre, und ragte aus einem Schneehaufen hervor. Als Susan sie schließlich erreichte, bewegte sie sich wieder schwach.
Susan holte tief Luft, beugte sich vor und berührte die Hand. Die Finger schlossen sich wie eine zuschlagende Schlange um ihr Handgelenk, und fast hätte Susan aufgeschrien. Mit der Kraft der Verzweiflung klammerte die Hand sich fest, zerrte panisch und verlangte nach Rettung. So kräftig riss die Hand an Susan, dass sie das Gleichgewicht verlor und mit der Stirn gegen den Baumstamm schlug. Sie schrie auf, und Blut rann ihr aus der Nase. Irgendwie aber schien der Schrecken ihr auch zu helfen, als hätte der Schmerz mit seiner Vertrautheit ihr unwirkliches Grauen durchstoßen. Sie wich wankend zurück und riss sich los; die Hand fuhr hektisch durch die Luft, und aus dem Schnee, dem sie entragte, drang ein gedämpfter Laut.
Im ersten Moment hätte Susan am liebsten auf die Hand getreten, weil sie ihr solch einen Schrecken eingejagt hatte, aber dieser Impuls verging rasch, denn Susan verstand nur zu gut, welches Entsetzen hinter der Umklammerung gesteckt hatte. Anstatt also die Hand zu verletzen, wich sie ihr aus und begann, mit beiden Händen im Schnee zu graben. Ihre Handschuhe hatte sie irgendwo verloren, und flugs wurden ihr die Finger taub von der Kälte. Aber sie brauchte nicht lange zu graben. Vom Winkel des Armes ließ sich gut herleiten, wie der Rest des Körpers lag, und bald hatte sie die Schulter freigelegt. Die Hand hörte auf, durch die Luft zu schlagen, was Susan die Arbeit erleichterte. Langes, vom Schnee mattes goldenes Haar schimmerte blass im trüben Licht. Susan arbeitete sich behutsam weiter nach oben, und kaum hatte sie genügend Schnee beiseite geräumt, als ein Kopf sich schlagartig hochreckte.
» O Gott! « Der raue, gekeuchte Schrei schien das Wrack der Liftkabine vollends zu erfüllen, dann blickte Susan in riesige, angsterfüllte blaue Augen. Das Mädchen mochte ein wenig älter sein als sie, gewiss aber war es jünger als Ranjit. Unter anderen Umständen wäre sie vermutlich sehr hübsch gewesen. Sie blinzelte und sah mit schreckverzerrtem Gesicht zu
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