Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
einen neuen Höhepunkt, während sie mit einem Daumen auf Novaya Tyumen wies, als wollte sie ihn damit erdolchen.
»Was?« Honor blinzelte sie ungläubig an.
»Er behauptet, ihm fehlten die ›Reserven‹«, erklärte Berczi voll Wut. »Seiner Ansicht nach kann da drüben niemand überlebt haben, und er will seine Mittel angeblich nicht von diesem Bereich hier abziehen, wo tatsächlich noch jemand am Leben sein könne. Das Management lässt hinten zwar ein paar Leute suchen, aber sie sind viel schlechter ausgestattet als die Navy oder das Corps, und Ihr edler Novaya Tyumen« – sie ließ den Titel wie einen Spottnamen klingen – »lässt sich nicht davon abhalten, jedem genau zu sagen, was er zu tun hat. Dabei findet dieser Affe mit beiden Händen und einer Taschenlampe den eigenen Hintern nicht!«
»Verstehe.« Honors Stimme klang kälter als der Bergwind. Nimitz zitterte vor Wut und drückte sich enger an ihre Schulter, während sie mit plötzlich eisigen Augen das Terrain absuchte, auf das Berczi gedeutet hatte. Einerseits vermochte sie Novaya Tyumens Argumentation zu folgen: Ihre Mittel waren in der Tat begrenzt. Diese Mittel würden aber schon bald anwachsen, denn Notrettungsteams aus anderen Skigebieten befanden sich auf dem Weg; die Teams aus den drei nächstgelegenen waren sogar schon eingetroffen; in wenigen Stunden würde es hier vor Bergrettungsspezialisten von überall auf dem Planeten wimmeln. Dann würde sich Novaya Tyumen von den Experten wahrscheinlich an den Rand gedrängt sehen, und Honor wurde den Gedanken nicht los, dass darin ein Grund für seine augenblickliche Autokratie zu suchen sei. Wollte er sicherstellen, der Rettungsoperation seinen Namen aufgeprägt zu haben, bevor jemand anderer auf den Plan trat, der ihm den Ruhm streitig machen konnte?
Was immer er dachte, beeinflusste indessen nicht die Wirklichkeit. Unbestreitbar hing die Chance, jemanden zu retten, außerordentlich stark von der Geschwindigkeit ab, in der Opfer gefunden wurden – und Novaya Tyumen hatte sein verfügbares Personal und Gerät in einer Weise organisiert, die Honor nie und nimmer gebilligt hätte. Sie wusste aus persönlicher Erfahrung, auf welch unwahrscheinlichen, unglaublichen Wegen Menschen eine Katastrophe wie diese überleben konnten. Sie hatte schon gesehen, wie Männer und Frauen geborgen wurden, die unter zehn, ja fünfzehn Metern Schnee begraben gewesen waren und trotzdem noch – irgendwie – hatten atmen können. Aber genauso gut wusste sie, wie wichtig es war, dass solche Menschen gefunden und ausgegraben wurden, bevor sie an Unterkühlung, Erschöpfung oder unbehandelten Verletzungen starben.
Novaya Tyumen hingegen fehlte ihre Erfahrung, und er hatte den Großteil seiner Navygasten und Marineinfanteristen zu Arbeitstrupps eingeteilt, die dort gruben, wo bekanntermaßen Überlebende verschüttet lagen, während nur ein sehr kleiner Teil seiner Leute zur Jagd nach noch unentdeckten Opfern eingeteilt war. Nun, da Honor seine Organisation im Lichte von Berczis ungestümen Kommentaren neu überdachte, begriff sie, dass es erheblicher schlechter aussah, als sie geglaubt hatte. Selbst die Pinassen, die er in die Luft beordert hatte, suchten nur einen eng umgrenzten Bereich ab, nämlich die Stellen der Bergwand, wo der Schaden begrenzt war; die Zonen der völligen Verwüstung ließen sie außer Acht.
Selbstverständlich sollte man niemals seine Mittel vergeuden, indem man sie in ein aussichtsloses Unterfangen steckte, aber nachdem Berczis Schilderung Honors Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und von Novaya Tyumens Abschiebetaktik abgelenkt hatte, wurde ihr plötzlich klar, dass er die stärker verheerten Zonen von vornherein aufgegeben hatte, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Wenn die Angestellten des Skigebiets oder zivile Rettungsmannschaften nach ihrer Ankunft diesen Bereich absuchen wollten, so sollte es ihm recht sein, er selbst aber scherte sich nicht darum.
Honor bemühte sich sehr, Novaya Tyumen die besten Absichten zu unterstellen. Sie rief sich zu Gedächtnis, dass er bei BuShips verwendet war – dass er ein Ingenieurwissenschaftler sei, mehr an eine bürokratische Umgebung gewöhnt denn an eine Position, in der seine Entscheidungen unmittelbare Folgen für Leib und Leben anderer hätten. Sie dachte sogar an ihre gerade eben angestellten Überlegungen, wie schädlich es wäre, die Kommandoebene zu fragmentieren. Nichts davon spielte noch eine Rolle. Nicht in Anbetracht der Tatsache, dass
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