Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
dann hatte er es unbedacht erwähnt, und damit wäre die Sache erledigt … es sei denn, ihr Vater selbst verlangte weitergehende Angaben.
Und dazu kommt es nicht , dachte sie und empfand ein schmerzliches Gefühl von Verlassenheit, das ihr sehr vertraut war. Daddy würde niemals mein Tun infrage stellen. Schließlich werde ich eines Tages Königin sein. Niemals wird er jemandem einen Grund geben, die geheiligte Ehre des Hauses Winton in Zweifel zu ziehen.
Sie schob ihre Qual beiseite und lächelte Tudev an.
»Ach so. Dieses Problem«, sagte sie. »Ich glaube, wir gehen nach Twin Forks, Colonel. Der Ort ist doch kleiner und irgendwie gemütlicher als Yawata Crossing. Außerdem war ich erst vor fünf Monaten in Yawata … und ich glaube, Vater besucht die Stadt in drei Monaten schon wieder.«
»Sehr wohl, Königliche Hoheit. Ich füge es der Alpha-Liste hinzu.«
Die Alpha-Liste, so wusste Adrienne, war der echte Terminplan für ihren Besuch auf Sphinx. Es war eine Routinevorsichtsmaßnahme, dass bis unmittelbar vor dem Aufbruch nach Sphinx nur zwei Leute Zugang zu dieser Liste hätten: Tudev und sein direkter Vorgesetzter, Brigadier General Hallowell, der Kommandeur des King’s Own Regiment der Royal Army. Nicht einmal Lady Haroun kannte die Alpha-Liste; gleichzeitig kursierten mehrere falsche Listen mit unterschiedlichen Besuchsorten. An jedem dieser Orte würden volle Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, doch handelte es sich bei den meisten nur um Ablenkungsmanöver. Unmittelbar nach dem Tod von Adriennes Mutter vor zehn T-Jahren war diese Prozedur als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme eingeführt worden.
Die Erinnerung an ihre Mutter weckte einen weiteren grimmigen Schmerzensstich. Adrienne brannten plötzlich die Augen, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Sie hatte sehr viel Übung darin, ihre Gefühle zu verbergen.
»Ich danke Ihnen, Colonel Tudev«, sagte sie und schenkte ihm noch ein Lächeln.
2
Ein seidiges Schemen aus cremefarbenem und grauem Fell huschte den Stamm eines Baumes hinauf, den die Menschen Pfostenbaum nannten. Das Schemen wurde langsamer, als es die oberen Äste erreichte, und ließ sich nun als Baumkater identifizieren, der für ein Männchen recht klein war. Von der Nase bis zur Spitze des Greifschwanzes maß er kaum mehr als einen Menschen-Meter, und dieser Schweif zeigte erst sechs Altersringe. Da sich bei Baumkatzenmännchen der erste Ring gegen Ende ihres vierten Sphinx-Jahres bildete und jedes weitere Jahr einer hinzukam, war das Alter dieses ‘Katers deutlich zu erkennen: Er war neun planetarische Jahre alt – etwas weniger als siebenundvierzig T-Jahre. Damit war er gerade ein junger Erwachsener, denn seine Spezies lebte durchschnittlich fünfmal so lange. Er bewegte sich mit einer Selbstsicherheit, die mit seiner Jugend unvereinbar erschien, zumal der Baum, den er gerade erkletterte, der ältesten, obersten Sagen-Künderin auf der ganzen Welt gehörte. Dabei entstammte der ‘Kater nicht einmal ihrem Clan – und obwohl er hoffte, dass sie ihn erwartete, war er von ihr nicht eingeladen worden.
An der nächsten Astgabel sah er sich plötzlich einem Männchen Gesicht an Gesicht gegenüber, das erheblich größer war als er und dessen Haltung das geballte Selbstvertrauen eines Jäger-Veteranen ausdrückte. Der ältere ‘Kater musterte ihn lange, doch der Jüngling schreckte nicht zurück. Hinreichend respektvoll grüßte er ihn mit einem Ohrenzucken, dann kletterte er in bedachtsamerem, gemächlicherem Tempo weiter. Der Jäger ließ ihn passieren.
Aha, dachte der Neuankömmling, sein Kommen war also angekündigt, ganz wie Sang-Weberin es versprochen hatte. Das war doch etwas; eigentlich sogar mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Er war darauf vorbereitet gewesen, dass die Clanältesten die Sagen-Künderin unter Druck setzen würden, bis sie ihr Versprechen ›vergaß‹. Er zuckte mit den Schnurrhaaren, das Gegenstück zu einem menschlichen Schnauben, und setzte seinen Weg fort, angetrieben von dem Gefühl rechtschaffener Entrüstung, das ihn über den halben Kontinent zu diesem Treffen geführt hatte.
Dann aber fand er die Astgabel, nach der er suchte, und bewegte sich wie von selbst sehr langsam. Zwar war es schön und gut, im Vertrauen auf die Rechtschaffenheit der eigenen Berufung die längste Reise anzutreten, doch nun, kurz vor dem Ziel, wurde ihm mit einem Mal klar, was es hieß, vor die höchstgeachtete Artgenossin auf der ganzen Welt zu treten.
Er
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