Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
den Menschen wirft, den er irgendwie davon überzeugt hat, den verdächtigen Absturz zu untersuchen? Kommen Sie schon, Dr. MacDallan, ich bin doch nicht von gestern.«
Scott bemitleidete sie aufrichtig. An ihrer Stelle hätte er jedem den Hals umdrehen mögen, der ihm vorenthielt, was nun er Dr. Hobbard nicht verraten konnte. Doch weder in emotionaler noch psychologischer, nicht einmal in politischer Hinsicht waren die Siedler von Sphinx schon weit genug, als dass sie hätten erfahren dürfen, was die Baumkatzen wirklich getan hatten. Stephanie Harrington hatte völlig Recht, wenn sie der Xenologin gegenüber behauptete, nur ein ›kleines dummes Kind‹ zu sein. Bevor wirklich feststand, dass das Sternenkönigreich von Manticore oder andere Menschen vom Schlage Mariel Ubels die Baumkatzen nicht mit Füßen treten würden, war Stephanie Harringtons Taktik die richtige und angebrachte Vorgehensweise.
»Das tut mir sehr Leid, Dr. Hobbard«, antwortete er müde. »Aber es gibt wirklich nichts weiter zu sagen. Der Streuner hat uns zu dem Wrack geführt. Ich habe den Rest getan. Und ich weiß immer noch nicht, weshalb er vor das Gewehr gesprungen ist …« Bei der Unschlüssigkeit in seiner Stimme blitzten die Augen der Xenologin auf.
»Mir tut es auch Leid«, sagte sie leise. Sie erhob sich etwas steif und ging. Scott seufzte und streichelte Fisher. Als er den Blick wieder hob, lehnte Irina Kisaevna am Türrahmen und beobachtete ihn. Er versuchte zu lächeln.
»Ich habe gehört, was sie sagte«, erklärte Irina ihm ruhig.
Scott nickte nur.
»Ich wollte nicht lauschen, aber ich bin in die Praxis gekommen, um nach dir zu sehen, und die Tür stand offen …«
»Ist schon gut.«
Sie durchquerte den Raum und setzte sich neben ihn, nahm seine Hand und hielt sie nur fest. Er drückte ihr still dankend die Finger. Während sie ihn schweigend betrachtete, trat ein seltsamer Ausdruck in ihre Augen. »Du hast ihr nicht alles verraten, oder? Und nein, ich habe die Datei auf meinem Computer nicht gelesen. Aber ich kenne dich, Scott, und du hast ihr nicht alles gesagt. Nicht einmal ansatzweise.«
Erneut strich er mit der anderen Hand durch Fishers Fell. Sein Freund summte leise und berührte ihn mit seinen winzigen, warmen Fingern am Handgelenk, nahm einen Teil der Trauer, die stumpf und unnachgiebig an ihm nagte, auf sich. Scotts Gedanken kehrten zu einem kleinen Lagerfeuer und den strahlenden fichtennadelgrünen Augen der Baumkatze zurück, zu dem Moment, als der abgemagerte Baumkater ihn am Knie berührte und die Bilder und Geräusche und Gefühlseindrücke aus dem Gedächtnis des Streuners kaleidoskopartig auf ihn einstürmten.
Von allen Menschen auf Sphinx würde allein Irina ihn verstehen – und das Geheimnis für sich behalten.
Sehr leise sprach Scott MacDallan in eine Stille, die nur von Fishers leisem, tröstenden Summen unterbrochen wurde, und erzählte Irina die Geschichte des Streuners.
JEDER TRAUM HAT SEINEN PREIS
(What Price Dreams?)
von David Weber
1
»Glauben Sie, wir sehen dort Baumkatzen?«
Kronprinzessin Adrienne Michelle Aoriana Elizabeth Winton von Manticore zählte einundzwanzig T-Jahre, wirkte augenblicklich jedoch viel jünger, während sie aus dem Fenster blickte und Tudev über die Schulter hinweg befragte.
Lieutenant Colonel Alvin Tudev bemerkte ihre Wehmut und fragte sich, ob sie überhaupt ahnte, dass sie soeben ihre Empfindungen enthüllt hatte. Doch, vermutlich schon , überlegte er, und im Grunde war es für ihn ein Kompliment, wenngleich ein trauriges. Gewöhnlich behielt die manticoranische Thronfolgerin solche Gefühlsregungen für sich, doch Tudevs Regiment, das King’s Own Regiment, stellte zusammen mit dem Palastwachdienst die Leibwächter der königlichen Familie. Der Lieutenant Colonel befehligte die Wachabteilung der Thronfolgerin, seit sie elf war, und sie betrachtete ihn als eine Art Lieblingsonkel. Diese Beziehung war ihm teuer, und nicht etwa – nicht einmal hauptsächlich – deswegen, weil die Gunst der Kronprinzessin seine Karriere förderte; Tudev war ehrgeizig und wollte gern bis in die Spitzenposition seines erwählten Berufes aufrücken. Wie leicht es fällt , Prinzessin Adrienne zu mögen, dachte er, und das leise Lächeln, das sich auf sein Gesicht gestohlen hatte, versiegte wie von selbst. Die Kronprinzessin besaß mehr als einen guten Grund, sich ihm in solcher Verbundenheit zuzuwenden. Die Entfremdung zwischen ihr und ihrem Vater wurde sowohl
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