Honor Harrington 15. Die Spione von Sphinx
Jahren, bevor er Judith zu seiner jüngsten Frau nahm, war Dinah dem Waisenmädchen eine Ersatzmutter gewesen. Die älteste Frau hatte sie streng, aber ohne Grausamkeit behandelt, in masadanischer Etikette unterwiesen, ihre auswendig gelernten Bibelstellen abgehört und vor dem Groll der anderen Frauen Ephraims geschützt – denen ausnahmslos klar war, dass er das graysonitische Mädchen nicht aus Hochherzigkeit zu sich ins Haus geholt hatte.
Als Judith zwei Jahre später ihre Fehlgeburten erlitt, hatte sich Dinah auf die Seite des Arztes gestellt, der den Rat erteilte, dem Mädchen einige Jahre zu gönnen, um körperlich zu reifen. Selbst angesichts der schneidenden Bemerkungen Ephraims, mit denen er Dinah beschuldigte, sie neide der Jüngeren Fruchtbarkeit und Jugend, hatte sie um keinen Zollbreit nachgegeben.
Nun stand Dinah mit Haaren so grau wie diese durchdringenden Augen und einer Figur, die von den vielen Kindern kündete, welche sie in den achtunddreißig Ehejahren lebendig oder tot zur Welt gebracht hatte, als Anklägerin und Richterin zugleich vor ihrer Mitfrau. Judith begriff nur nicht, wieso Dinah nicht augenblicklich Ephraim oder einen ihrer Söhne herbeirief.
»Ich wollte sehen, wie es ist«, entschuldigte sich Judith lahm. »Ich habe gesehen, wie Zachariah es benutzte, und es sah lustig aus.«
Als Dinah die VR-Brille an ihren Platz legte, hätte Judith schwören können, dass die Älteste auf die Programmliste blickte und verstand, was dort zu lesen war. Doch das war unmöglich, oder?
Zum ersten Mal in den vier Jahren, die sie nun unter Ephraims Dach wohnte, zweifelte Judith plötzlich, ob sie wirklich im Bilde war.
»Komm mit«, befahl Dinah. Ihre Finger tanzten über die Tasten, während sie die Sequenz zum Herunterfahren eingab.
Die Tastenkombination war alltäglich und galt für jedes Haushaltsgerät; Judith hätte sich eigentlich nicht zu wundern brauchen, doch etwas regte sich in ihr, die Andeutung eines Gefühls, das ihr so fremd geworden war, dass sie kaum noch wusste, wie es sich anfühlte.
Hoffnung.
Ängstlich, die eigentümliche Empfindung zu nähren, beugte Judith den Kopf und folgte Dinah gehorsam zu der Privatkammer, die Dinah als älteste Frau für sich beanspruchen durfte. Die anderen Frauen übernachteten in Schlafsälen, eine Einrichtung, die etwas verhindern sollte, von dem man nur vage als ›der Verirrung‹ sprach.
Judith glaubte, dass die Verirrung mit Sex zu tun haben könnte, doch ihre Erfahrungen mit Ephraim ließen ihr Sex nicht als etwas erscheinen, um das man sich bemühen sollte. Sie hatte es als ein Stück wertlosen Wissens abgespeichert und ihre Energie lieber darauf verwendet, Schliche zu ersinnen, um den Schlafsaal verlassen zu können, ohne sich erklären zu müssen. Während der zwei Jahre, die sie bei den anderen Frauen schlief, hatte sie eine große Anzahl Ausreden und Methoden entwickelt, und vorsichtig setzte sie keine davon allzu oft ein.
Dinah bedeutete Judith, sich zu setzen, dann schloss sie die Tür.
»Energieverlust nach der Transition in den Normalraum«, sagte sie. »Wozu ist das gut?«
Judith setzte schon zur Antwort an, so sachlich war ihr die Frage gestellt worden. Dann erst begriff sie, was die Frage bedeutete.
»Du kannst lesen!«
»Mein Vater war sehr alt, als ich zur Welt kam«, sagte Dinah ruhig, »und sein Augenlicht verließ ihn. Er hat sich nie mit Aufnahmen zufrieden gegeben, sie waren ihm zu eingeschränkt, und deshalb hat er mir beigebracht, ihm aus der Bibel vorzulesen. Später, als Ephraim durch meine Demut und meine Frömmigkeit auf mich aufmerksam wurde, befahl mein Vater mir zu vergessen, was ich gelernt hatte, denn es war allseits bekannt, dass die Templetons nichts von gebildeten Frauen halten. Ich habe selbstverständlich gehorcht und meinen Herrn und Meister niemals aus den Irrtümern seiner Annahmen in Bezug auf mich befreit.«
Judith wusste, dass Dinahs Familie arm war und in der Hierarchie Masadas nicht sonderlich weit oben stand. Ein Bund mit den ehrgeizigen Templetons, ein Bund vor allem, durch den man sich einer nutzlosen Tochter entledigte, wäre eine hässliche Lüge wert gewesen.
»Wusstest du, dass ich …«, fragte Judith. Sie fühlte sich ganz als Kind, und die Selbstsicherheit ihrer vierzehn Jahre entglitt ihr.
»… lesen kann?« Dinah schaltete eine Tonaufzeichnung mit gesungenen Bibeltexten ein, die aus den Lautsprechern ihres Zimmers drang. »Ich hatte es vermutet. Du warst sehr vorsichtig, auch
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