Honor Harrington 15. Die Spione von Sphinx
Beste vom Besten einsetzen.
Als Erstes fiel Chin auf, dass der Chef der havenitischen Systemsicherheit kleiner erschien, als sie sich erinnerte. Sie war ihm schon seit vielen Jahren nicht mehr persönlich begegnet, und auch damals, bei einem großen offiziellen Anlass, hatte sie ihn nur von weitem gesehen. Bei dieser Gelegenheit hatte er auf einem erhöhten Podest hinter einem Rednerpult gestanden, ein gutes Stück von Chin entfernt. Damals war er ihr groß vorgekommen. Als sie ihn jetzt als Holoprojektion hinter seinem Schreibtisch sitzen sah, erschien er ihr als kleiner, unsympathischer Bürokrat. Hätte Chin nicht gewusst, dass Oscar Saint-Just vermutlich der kaltblütigste lebende Massenmörder war, hätte sie ihn für einen Sachbearbeiter gehalten, der seine besten Jahre schon hinter sich hatte.
Obwohl das gewiss einiges erklärte, war sich Chin darüber im Klaren, dass es hauptsächlich psychologische Gründe hatte, wenn ihr Saint-Just nun so viel kleiner erschien. Als sie Saint-Just zum letzten Mal gesehen hatte, hatte sie ihn gehasst und gefürchtet und sich gefragt, ob sie überhaupt das Ende der Woche erleben würde. Sie hasste Saint-Just noch immer – und fragte sich nach wie vor, wie viel Zeit ihr im irdischen Jammertal noch beschieden sei –, doch ihr schieres Entsetzen vor dem Mann war im Laufe der Jahre, in denen sie ihre Selbstsicherheit langsam dadurch wiederaufbaute, dass sie aus dem La-Martine-Sektor ein Schmuckstück der Volksrepublik machte, zum großen Teil versickert.
Die Tür zu Saint-Justs Büro öffnete sich, und der gleiche junge SyS-Offizier, dessen Gesicht sie angestarrt hatte, wurde von einem Sekretär hineingebeten. Der Sekretär schloss hinter ihm die Tür, ohne den Raum betreten zu haben.
Der junge Offizier musterte kurz die beiden Posten, die hinter Saint-Just an der Wand standen. Der Chef des Amts für Systemsicherheit saß an einem Schreibtisch fast genau im Zentrum des Zimmers und studierte ein Dossier, das aufgeschlagen vor ihm lag.
Chin war beeindruckt von dem Blick, den der Offizier auf die Posten warf. Gelassen taxierte er sie, so schien es – gerade lange genug, um sicherzustellen, dass die Posten sich nicht sonderlich auf ihn konzentrierten. Sie standen natürlich reaktionsbereit. Etwas anderes hätte Saint-Just bei seinen persönlichen Leibwächtern nicht geduldet. An dieser Wachsamkeit war jedoch nichts, was über Ausbildung und Gewohnheit hinausging; es zeigte sich keines der subtilen Anzeichen, dass zu Saint-Just soeben ein Mann vorgelassen worden wäre, der verhaftet oder liquidiert werden sollte.
Chin wusste, dass sie in dieser Situation nicht so viel Haltung bewahrt hätte, obwohl sie dem jungen Offizier an Jahren und Erfahrung einiges voraushatte. Er war entweder mit einem völlig reinen Gewissen gesegnet oder ein außergewöhnlich guter Schauspieler.
Der Offizier marschierte flinken Schrittes über die weite Teppichfläche, hielt vor dem Schreibtisch des Direktors an und stand stramm. Chin bemerkte, dass er sorgfältig darauf achtete, nicht zu nahe heranzutreten. Der Offizier war selbst kein sonderlich großer Mann, und so lange er mehr als eine Armeslänge Abstand zu Saint-Just hielt, wurden die Leibwächter nicht nervös. Auf Waffen hatte man ihn längst gründlich untersucht. Ganz offensichtlich wäre es keinem der Posten – geschweige denn beiden zusammen – in irgendeiner Weise schwer gefallen, ihn zu überwältigen, sollte er plötzlich Amok laufen und den Direktor angreifen wollen. Die Leibwächter waren zwar keine Riesen, aber sehr große, kräftige Männer und gewiss, da hegte Chin keinen Zweifel, Experten im Nahkampf, sei es mit oder ohne Waffen. Nach allem, was sie sagen konnte, war das der Offizier vor dem Schreibtisch nicht. Er war schlank und kräftig gebaut; man merkte ihm an, dass er regelmäßig trainierte. Chin war selbst eine Expertin für waffenlosen Kampf – oder es früher zumindest einmal gewesen –, und sie entdeckte in seiner Haltung keines der subtilen Anzeichen, die solch eine Ausbildung verrieten.
Ihr fiel aber etwas anderes auf, und sie lachte krächzend. »Sie haben ihm den Gürtel und die Schuhe abgenommen!«
Radamacher grinste bitter. »Nach Pierres Tod wird Saint-Just wohl überhaupt keine mögliche Bedrohung mehr übersehen.« Er hielt die Wiedergabe an und musterte das Standbild. Schließlich kicherte er. »Gibt es einen alberneren Anblick als einen Mann, der in Socken strammsteht? Wie gut, dass das
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