Honor Harrington 15. Die Spione von Sphinx
schreiben zu lernen. Infolgedessen lebten die Reinen Gläubigen in isolierten Enklaven und hatten nur wenig Kontakt mit den übrigen Wahren Gläubigen – allerdings stellten sie die grimmigsten und gehorsamsten Soldaten, die man sich denken konnte.
Durch diese Indoktrination war es hochgradig unwahrscheinlich, dass eine Masadanerin, die den Schritt wagte, sich dem Schwesternbund anzuschließen, ihre Schwestern später verriet. Vielmehr schweißte der unwiderrufliche Verlust der intellektuellen Jungfräulichkeit die Frauen noch enger zusammen, und ihr Wissen um die Strafen, die alle erwartete, verbaute jeden Rückweg in die masadanische Gesellschaft – denn auch einer Frau, die später ihr Lernen bereute und die anderen verriet, drohte die gleiche Buße wie ihren ›Komplizinnen‹.
Judith entdeckte schnell, dass der Schwesternbund nicht nur verbotene Fertigkeiten und verbotenes Wissen lehrte; die Schwestern wurden auch in der Täuschung ausgebildet, damit sie sich nicht durch die ungewollte Enthüllung ihres Könnens verrieten – beobachtet zu werden, wie man beiläufig ein beschriftetes Schild las, hätte dazu schon ausgereicht.
All das jedoch gehörte zum ersten Teil der schwesternbündischen Absichten. Das zweite Ziel war weitaus kühner und vielleicht unmöglich zu erreichen, denn der Schwesternbund hoffte eines Tages einen Exodus herbeizuführen, der die Schwestern aus der Unterdrückung durch ihre Gebieter in die Freiheit führte.
Denn sosehr die Wahren Gläubigen auch trachteten, ihren Frauen alles Wissen über das Universum jenseits der Grenzen des Endicott-Systems vorzuenthalten, die Wahrheit war doch durchgesickert – manchmal deutete sie sich gerade in den Verboten und Geboten an, die den Frauen von den Männern auferlegt wurden. Die Frauen wussten, dass andere Sterne als Masadas Sonne von Welten umkreist wurden, auf denen Frauen nicht als Eigentum galten. Dass es Planeten gab, auf denen Frauen das Lesen, Schreiben und Denken gestattet war; Welten, wo – so wisperten zumindest die Wagemutigsten unter den Schwestern – Frauen sogar ohne den Schutz eines Mannes ihr eigenes Leben führen durften.
Von dem Tag an, an dem Ephraim die geschockte und traumatisierte zehnjährige Grayson ins Kinderzimmer schleifte, hatte Dinah davon geträumt, dass Judith die verheißene Moses sei, die den Schwesternbund in die Freiheit führen sollte. Und das Mädchen hatte die Hoffnungen der älteren Frau nicht enttäuscht. Von Anfang an bewies Judith sowohl Wissen als auch Selbstbeherrschung – und die nötige Intelligenz, beides zu verbergen. Ihre unschuldigen Geschichten über das Leben, das hinter ihr lag – zum großen Teil erzählt, bevor ihr klar wurde, wie gefährlich sie waren –, hatten die am meisten geheiligten Hoffnungen und Träume des Schwesternbunds bestätigt.
Deshalb war Judith, während sie sich völlig allein wähnte, mit dem wachsamen Netz der älteren Schwestern umwoben worden. Sie hatten noch nicht gewagt, sie in ihre Geheimnisse einzuweihen, denn vorher mussten sie sehen, ob Judith sich nicht etwa wie so viele Frauen auf verdrehte Weise umso mehr an ihren Peiniger klammern und ihn als einen Helden ansehen würde, der das Recht hatte, sie als Gegenstand zu behandeln. Vier von brutalen Prüfungen angefüllte Jahre, davon zwei als Ehefrau eines Mannes, der bereits scheinbar stärkeren Seelen seinen Stempel aufgeprägt hatte, ließen die Schwestern verstreichen, bevor Dinah Judith stellte und in den Bund aufnahm.
Nun, zwei Jahre nach ihrer Initiation, nahm Judith angesichts von Ephraims Plänen, ihre ungeborene Tochter abzutreiben, und einer von ähnlicher Misshandlung gekennzeichneten Zukunft, die Pflichten an, die ihr der Schwesternbund auf die Schultern lud. Sie würde die Moses sein, und obwohl sie keine göttliche Stimme hörte, die sie in ihrem Tun anleitete, beschloss sie, die Zeit sei reif für den Exodus des Schwesternbunds.
Michael begriff zwar, wieso die diplomatische Delegation ins Endicott-System ausschließlich aus Männern bestehen musste, dennoch kam es ihm eigenartig vor. Seit dem Tode seines Vaters hatte Beth jedes politische Treffen dominiert, an dem er teilnahm, und vor der Volljährigkeit seiner Schwester war eine Frau die Regentin des Sternenkönigreichs gewesen, ihre Tante Caitrin, die Herzogin von Winton-Henke. Darum wirkte eine rein männliche Gruppe definitiv seltsam auf ihn.
Andererseits waren vielleicht eher Geschlecht und Verfügbarkeit die
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