Honor Harrington 6. Ehre unter Feinden
erfüllte sie mit tiefem Entsetzen, aber ihr war keine andere Wahl geblieben. Ein Schlachtkreuzer der Sultan -Klasse war zu gefährlich, um damit irgendwelche Risiken einzugehen. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, als das Schiff mit der ersten Salve auszuschalten, auch wenn dieser Overkill bedeutete, daß es an Bord des Ziels keine Überlebenden geben würde. Also hatte sie soeben zweitausend Menschen getötet, ohne ihnen die geringste Chance zu lassen. Doch vorher hatte das havenitische Schiff noch zurückgeschlagen. Seine einzelne Breitseite sandte zwanzig Raketen zur Wayfarer und zur Artemis , und durch die Nähe des Liners war Honor gezwungen, das eigene Schiff zu einem noch leichteren Ziel zu machen. Wenn auch nur eine Rakete die Artemis anvisierte und durchkam, war es durchaus möglich, daß sie den Liner mit einem Glückstreffer vernichtete – oder zumindest Zivilisten tötete, für deren Schutz Honor kämpfte. Deshalb hatte Honor die Wayfarer direkt vor das Heck der Artemis gelegt und freiwillig den Racheschlag der Kerebin auf sich gezogen. Die Raketenabwehr hatte sich gut gehalten, aber die Wayfarer besaß nicht die Nahbereichsabwehr eines richtigen Kriegsschiffs, und acht Laser-Gefechtsköpfe waren zu ihr durchgedrungen.
»Bisher zwoundneunzig Tote, Skipper«, sagte Rafe Cardones mit belegter Stimme. »Das Lazarett meldet über sechzig Verwundete, und es kommen noch mehr.«
»Materialschäden?«
»Verloren haben wir Graser Eins, Drei und Fünf in der Backbordbreitseite«, antwortete Tschu aus dem Technischen Leitstand. »Werfer Eins und Sieben gibt es nicht mehr, Fünf und Neun können nur lokal gerichtet werden. Die Starthangars für LAC-Flottille Eins sind komplett hinüber, aber wenigstens sind sie leer gewesen. Grav Zwo ist vernichtet, und ich habe drei Seitenschild-Generatoren verloren, alle backbords, und Impeller Zwo vermißt einen Beta-Emitter.«
»Skipper, ich erhalte gerade die Meldung, daß Frachtraum Eins nicht funktioniert«, fügte Jennifer Hughes gehetzt hinzu.
Honors Magen krampfte sich zusammen. »Harry?«
»Ich überprüfe es schon. An den Schienen kann ich keinen Schaden finden, aber …« Der Ingenieur zögerte und fluchte leise. »Korrektur: Wir haben einen Schaden – nur nicht am Startsystem.« Er musterte eingehend seine Anzeigen, dann schüttelte er den Kopf. »Die Schienen sind noch in Ordnung, Skipper; es liegt an den Frachttoren. Der Treffer in den achteren Impellerring muß einen Energieschlag durch die Motoren der Tore gejagt haben. Das Backbordtor ist halb geschlossen, an Steuerbord sieht es ähnlich aus.«
»Können wir sie wieder öffnen?«
»Nicht allzu bald«, knurrte Tschu. Er beschäftigte sich mit seiner Konsole, überlegte einen Augenblick und verzog das Gesicht. »Es sieht ganz so aus, als wären die Motoren durchgebrannt. Am Backbordtor könnte es an den Steuersystemen liegen – das läßt sich nur vor Ort mit Gewißheit feststellen –, aber am Steuerbordtor sind die Motoren definitiv schrottreif. Wenn an Backbord nur die Steuerung kaputt ist, dann können wir vielleicht neue Leitungen legen und die Motoren wieder in Gang bringen. Damit hätten Sie zwo klare Startschienen. Aber der Treffer hat dort fürchterlich gewütet, keine einzige Kamera funktioniert da noch, deshalb kann ich nicht sagen, in welchem Ausmaß Wrackteile den Weg blockieren. Die Reparaturen werden mindestens eine Stunde dauern – wenn sie überhaupt möglich sind.« Er blickte ihr von dem kleinen Combildschirm direkt in die Augen. »Tut mir leid, Skipper. Das ist bereits das Optimum.«
»Verstanden.« Honor schwirrte der Kopf. Verglichen mit dem havenitischen Kriegsschiff, das sich der Wayfarer näherte, war das Q-Schiff erbärmlich langsam. Die schweren Schäden in der Backbordbreitseite reduzierten die Feuerkraft im Nahgefecht um ein Viertel, und die unbeweglichen Frachttore beraubten Honor der Möglichkeit, Raketengondeln auszusetzen. Selbst wenn Tschu noch genug Zeit hätte, um wenigstens das Backbordtor wieder zu öffnen, waren doch zwei Drittel der Kampfkraft im Fernkampf verloren. Die Chance der Wayfarer , ein Raketengefecht mit einem regulären Kriegsschiff zu überstehen, war praktisch gleich Null. Und wie der erste havenitische Schlachtkreuzer bereits demonstriert hatte, konnte selbst ein bereits zerstörtes Kriegsschiff die Wayfarer noch mit einer letzten Breitseite in den Tod reißen.
Noch hatte Honor die zweite LAC-Flottille zur Verfügung – sie hatte die
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