Honor Harrington 7. In Feindes Hand
einige dem Konzept mit einer ablehnenden Grundhaltung gegenüberstanden. Dafür hatte sie zwar Verständnis, die Bedenken aber wies sie zurück – und das nicht nur, weil sie sich ebensosehr als eine Grayson fühlte wie als Manticoranerin. Von allein hätte die RMN nie erwogen, eine Position auf Stabsebene für einen Offizier einzurichten, der allein für die Systeme zur Elektronischen Kampfführung eines Geschwaders oder Kampfverbands verantwortlich war. Diese Aufgabe hatte bei der RMN wie bei den meisten anderen Flotten immer zum Ressort des Operationsoffiziers gehört.
Nur die Graysons hatten sich wie üblich wenig ums Überlieferte geschert und die Funktion vor weniger als einem T-Jahr aufgeteilt. Dadurch war sie Honor so neu wie jedem anderen RMN-Offizier, doch sowohl das Amt für Personalwesen als auch Commodore Restons Doktrin- und Taktikstab hatten sehr viel Gedankenarbeit investiert, bevor sie handelten. Nachdem Honor das Jelzin-System verlassen hatte und wieder in manticoranischen Dienst zurückkehrte, ersuchte man sie, über die Einrichtung einer Stabsstelle für Elektronikoffiziere nachzudenken. Deshalb hatte sie gegenüber ihren manticoranischen Kameraden einen gewissen Gedankenvorsprung besessen; letztere lästerten noch über diese neumodischen Spinnereien unerfahrener Amateure, die von funktionierenden Arrangements besser die Finger gelassen hätten. Nach Honors Erfahrung war diese Reaktion typisch für Leute, die sich an die Tradition um ihrer selbst klammerten. Für sie war das bereits Grund genug, dem neuen Konzept eine Chance zu geben, und wie erstaunlich viele häretische Ideen der GSN schien es sich in der Praxis zu bewähren – ein Urteil, das sich auch Scotty Tremaine noch erschließen würde, wenn er sich erst in seine neue Aufgabe eingearbeitet hatte.
Sie beobachtete Tremaine, der auf den zweitjüngsten Angehörigen des Stabes zutrat. Lieutenant (Senior-Grade) Jasper Mayhew, der Nachrichtenoffizier, war erst achtundzwanzig T-Jahre alt und ein entfernter Verwandter von Protector Benjamin. Er hatte das gleiche dichte kastanienbraune Haar wie Andrew LaFollet und himmelblaue Augen. Trotz seiner außerordentlichen Jugend wußte Honor, daß sie sich auf ihn verlassen konnte, denn er war von Captain Gregory Paxton ausgebildet worden, der beim 1. Schlachtgeschwader ihr Nachrichtenoffizier gewesen war. Außerdem arbeiteten er und Scotty bereits jetzt so reibungslos zusammen, als wären sie alte Kameraden, und so wenig Honor geneigt gewesen wäre, es zuzugeben (zumindest solange Tremaine in Hörweite stand), gab sie sehr viel auf das Urteil des Elektronikoffiziers.
Bei der heutigen Besprechung fehlte nur Lieutenant Commander Michael Vorland, der Stabskaplan. Vorland zeichnete sich durch eine persönliche Marotte aus: Der kleinwüchsige, adrette Mann mit den sanften braunen Augen und dem schütteren sandfarbenen Haar trug tatsächlich eine antiquierte, drahtgefaßte Brille und weigerte sich schon seit dem Beitritt Graysons zur Manticoranischen Allianz standhaft, an seinen Augen eine Korrekturoperation vornehmen zu lassen. Die Gläser waren allerdings nicht sehr dick, und Honor vermutete, daß seine Weigerung, sie aufzugeben, weniger auf altmodischen Vorurteilen beruhte als vielmehr auf dem Wunsch, etwas zu bewahren, was im Laufe der Jahre zu einem Teil seiner ›Berufskleidung‹ geworden war. Niemand hätte einen sanfteren Eindruck erwecken können, doch seine unscheinbare Gestalt täuschte über seine beträchtliche Körperkraft hinweg, und wenn es sein mußte, verstand sich Vorland darauf, erstaunlich starken moralischen Druck auszustrahlen.
Ganz offensichtlich wußte der Stabskaplan, daß die Manticoraner sich in seiner Gegenwart ein wenig unbehaglich fühlten. Die RMN beschäftigte keine offiziellen Seelsorger, und so war es nicht verwunderlich gewesen, daß die Manticoraner sich erst an diesen Gedanken gewöhnen mußten. Die Grayson Space Navy war niemals ohne Kapläne gewesen, und auch der skeptischste Manticoraner mußte einräumen, daß ein gemischtes Geschwader geistigen Beistand benötigte. Honor hätte es aus tiefstem Herzen vorgezogen, Abraham Jackson dabeizuhaben, den Kaplan des 1. Schlachtgeschwaders, doch Jackson war vom aktiven Dienst befreit und Reverend Sullivans engstem Kreis zugeteilt worden. Obwohl sich Vorland sehr von Jackson unterschied, nahm Honor an ihm die gleiche aufgeschlossene, flexible geistige Kraft wahr, die sie auch bei ihrem alten Stabskaplan schätzen gelernt
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