Honor Harrington 8. Die Siedler von Sphinx
Drachensegelunterricht sowohl zum Ausgleich als auch zur Ablenkung wiederaufzunehmen. Diese Idee war brillant gewesen, das musste Marjorie ihm lassen, und Stephanie hatte mit Begeisterung darauf reagiert. Wie froh Marjorie war, dass Stephanie das Fliegen so genoss – viele Stunden verbrachte ihre Tochter in der Luft und meldete sich während der Segelflüge regelmäßig über das Armbandcom. Trotz der lautstark geäußerten Besorgnis einiger Eltern in Twin Forks, deren Kinder am Unterricht teilnahmen, machte sich Marjorie keine allzu großen Sorgen wegen der Gefahren dieses Hobbys. Auch wenn sie diesen Sport selbst nie betrieben hatte, war er auf Meyerdahl doch sehr beliebt, und dort hatte sie begeisterte Anhänger zu Dutzenden gekannt. Und im Gegensatz zu anderen Eltern hatte sie gelernt – wenngleich nicht ohne Schwierigkeiten, wie sie zugeben musste –, dass man sein einziges Kind nicht ständig in Watte packen konnte. Kinder waren zwar nicht unverwüstlich, doch in einem Maße widerstandsfähig, dass Erwachsene schon den Gedanken daran nicht ertragen konnten. Eine gewisse Anzahl von blauen Flecken, Kratzern, Beulen, Schnitten und selbst Knochenbrüchen gehörten zur Kindheit einfach dazu, ob es den Eltern nun passte oder nicht.
Doch während Marjorie in Bezug auf Stephanies neues Hobby keinerlei ungutes Gefühl hatte, so musste sie insgeheim doch zugeben, dass ihre Tochter sich hauptsächlich deswegen in diesen Freizeitsport stürzte, um sich von Enttäuschungen anderswo abzulenken. Nach außen hin schien sie allen Drang verloren zu haben, die endlos weiten Wälder des Harringtonschen Besitzes zu erkunden, doch der Anschein trog wie so oft. Marjorie kannte ihre Tochter gut genug, um zu glauben, dass Stephanie ihr ursprüngliches Vorhaben nie aufgegeben hatte, ganz gleich, welche demonstrative Begeisterung sie für etwas anderes an den Tag legte.
Schwermütig rieb sie sich die Nase. Ohne Zweifel erkannte Stephanie zumindest intellektuell, wie wichtig Marjories Arbeit als Genetikerin für die Kolonie war und weshalb die Projekte alle geplanten gemeinsamen Vorhaben verhinderten. Doch das machte es am Ende vielleicht nur schlimmer. So intelligent Stephanie sein mochte, sie war erst elf, und Begreifen und Hinnehmen stellten selbst für Erwachsene oft zwei völlig verschiedene Paar Schuhe dar. Ob Stephanie es nun akzeptierte oder nicht, die Notwendigkeiten waren und blieben ihr gegenüber ungerecht. Für Kinder aber ist ›Fairness‹ oft das Wichtigste – auch für fast zwölfjährige Genies. Stephanie jammerte oder schmollte nur äußerst selten, dennoch hatte Marjorie fest mit dem einen oder anderen wohlerwogenen Kommentar zum Thema Fairness gerechnet, und als jeglicher Kommentar ausblieb, war Marjories Schuldgefühl nur schlimmer geworden. Fast war es, als ob Stephanie …
Ein neuer Gedanke kam ihr, und Marjorie hörte auf, sich die Nase zu reiben. Wieso war sie bisher noch nicht auf diese Idee gekommen? Dabei kannte sie ihre Tochter doch am besten! Diese lächelnde Selbstergebung sah Stephanie überhaupt nicht ähnlich. Es stimmte schon, sie jammerte oder schmollte eigentlich nie, aber wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab sie andererseits auch nicht kampflos auf. Auf Meyerdahl hatte sie am Drachenfliegen zwar Spaß gehabt, zu der großen Leidenschaft aber, die es hier plötzlich zu sein schien, war der Sport nie geworden. Gewiss lag es im Rahmen des Möglichen, dass sie auf Meyerdahl schlichtweg noch nicht ganz erkannt hatte, wie viel Freude dieses Hobby bereiten konnte, doch Marjories Instinkte sagten, dass hinter dem plötzlichen Sinneswandel etwas anderes stecken musste.
Je länger sie über die Gespräche nachsann, die sie in jüngster Zeit mit ihrer Tochter geführt hatte, desto stärker wurde ihr Misstrauen. Stephanie beschwerte sich nicht mehr, dass man sie an die Kette gelegt habe, und auch die ›Hohlheit‹ der Kinder aus Twin Forks, mit denen sie Drachenflugunterricht nahm, schien ihr nichts mehr auszumachen; vor allem aber war es mehr als zwei Wochen her, dass sie die geheimnisvollen Selleriediebstähle zum letzten Mal erwähnte. Marjorie schalt sich, der Sünde der Selbstgefälligkeit verfallen zu sein. Sie wusste zwar genau, wie es dazu kommen konnte – unter dem Zeitdruck ihrer Projekte war sie froh gewesen über Stephanies Selbstbeherrschung, ohne angemessen über die Ursachen nachzudenken –, doch das war wohl kaum eine Entschuldigung. Alle Zeichen waren
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