Honor Harrington 9. Der Stolz der Flotte
Todeskuss gebe, die ich liebe? Erst Emily, jetzt Honor …
Er schnaubte verbittert. Der Gedanke war doch purstes Selbstmitleid! Trotzdem vermochte White Haven ihn nicht zurückzuweisen. Wenn er nun sentimental war, wen außer ihm ging das etwas an? Verdammt noch mal, er hatte ja wohl ein Recht auf ein bisschen Gefühlsduselei!
Über den wartenden Pralldämpfern begannen bernsteingelbe Lichtstreifen zu blinken, um den Piloten einzuweisen, ein sicheres Zeichen, dass die Landung der Pinasse kurz bevorstand. White Haven bemerkte es nicht einmal. Vielmehr erinnerten ihn die Blinklichter an den entsetzlichen Tag vor fünfzig Jahren, als der überschallschnelle Ambulanzflieger mit grellem Blaulicht landete und die Rettungshelfer ausstiegen, um den zerschmetterten Körper seiner Frau in die Notaufnahme des Landinger Allgemeinen Krankenhauses zu bringen. White Haven, damals noch Lord Hamish Alexander, wartete dort auf den Krankentransport, nachdem er aus seinem Büro in der Admiralität herbeigerast war. Nur bei ihr gewesen war er nicht, um den Unfall zu verhindern, nicht wahr? Nein, natürlich nicht. Er hatte seine ›Pflicht‹ und seine ›Aufgaben‹, und beide waren sie Empfänger der Prolong-Behandlung, sodass sie Jahrhunderte Zeit hatten, um alles nachzuholen, was ihnen wegen dieser unentrinnbaren Konzepte entging.
Aber er war da und sah, wie man sie hereinbrachte – er sah ihre Verletzungen und krümmte sich vor Entsetzen zusammen, denn im Gegensatz zu ihm gehörte Emily zu der Minderheit von Menschen, bei denen die Regenerationstherapien nicht anschlugen. Wie Honor , erinnerte ihn ein Gedanke nun. Genau wie Honor – noch eine Gemeinsamkeit. Deswegen war er so entsetzt gewesen.
Emily hatte es überlebt. Keiner der Ärzte hatte damit gerechnet, bei allen Wundern der modernen Medizin nicht, doch keiner der Ärzte kannte Emily so gut wie Hamish Alexander. Keiner von ihnen konnte ahnen, welch unbeugsamer Wille und unerschütterlicher Mut ihr innewohnte. Zwar besiegte sie den Tod und überlebte sogar mit intaktem Verstand, doch man sagte ihm offen, dass seine Frau ihren Lebenserhaltungsstuhl nie wieder verlassen würde. Und so war es nun seit fünfzig Jahren.
Die Erkenntnis, dass die Ärzte sich nicht irrten, hätte White Haven fast vernichtet. Er hatte gegen die Vorstellung angekämpft, sie zurückgewiesen und sich an ihrer dornigen, unnachgiebigen Härte die Fäuste blutig geschlagen. Er hatte es abgeleugnet und sich gesagt, dass er nur die Augen aufhalten müsse: Wenn er das Vermögen seiner Familie darauf verwendete, die Universitäten und Lehrkrankenhäuser auf Alterde, Beowulf und Hamilton zu durchkämmen, dann würde er jemanden finden, der eine Antwort auf seine Frage hätte. Und er versuchte es. O Gott, wie sehr er es versuchte. Und doch scheiterte er, denn es gab keine andere Antwort als den Lebenserhaltungsstuhl, lebenslanges Gefängnis für die wunderschöne, vor Energie sprühende Frau, die er mit Herz und Seele liebte. Die Schauspielerin und HoloVid-Produzentin, die politische Analytikerin und Historikerin, deren Verstand die Verstümmelung ihres Körpers unbeschadet überstanden hatte – die alles begriff, was ihr widerfahren war und mit jenem unerbittlichem Mut, den er so liebte und bewunderte, weiterkämpfte und sich der zufälligen Katastrophe, die in ihr Leben einbrach, nicht unterwarf.
Die Reiterin, Tennisspielerin und Gravskifahrerin, deren Hirnstamm ein künstlicher Nervenstrang mit dem Leitsystem des Lebenserhaltungsstuhls verband, und die unterhalb des Halses nun eine Hand zu fünfundsiebzig Prozent benutzen konnte. Punkt. Mehr nicht. Das war alles, und mehr konnte es nicht geben, so lange sie lebte.
Damals war Hamish Alexander förmlich zerfallen. Er wusste nicht, wie Emily seinen Zusammenbruch überlebt hatte, seine Schuld- und Versagensgefühle. Niemand konnte ändern, was ihr widerfahren war, oder es in ›Ordnung‹ bringen, dabei wäre genau das seine Aufgabe gewesen! Für die Menschen, die man liebte, musste man stets alles in ›Ordnung‹ bringen, und darin hatte White Haven versagt. Dafür hatte er sich mit einer bitteren Giftigkeit gehasst, vor der er noch heute erschrak.
Aber er hatte sich wieder aufgebaut. Leicht gewesen war es nicht, und er hatte Hilfe benötigt, aber am Ende hatte er es geschafft. Auch diese Leistung fügte seiner Lebensschuld einen weiteren Dorn hinzu, denn um die benötigte Hilfe wandte er sich an Theodosia Kuzak. Theodosia war ›ungefährlich‹, denn
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