Honor Harrington 9. Der Stolz der Flotte
er kannte sie schon, als sie beide noch Kinder gewesen waren. Sie war seine Freundin und Vertraute, und deshalb war sie – für kurze Zeit – auch seine Geliebte gewesen.
Darauf war er nicht stolz, doch damals war ihm die Kraft ausgegangen. Ein Alexander von White Haven wusste alles über Pflicht und Verantwortung. Ein Alexander hatte stark zu sein, ein Offizier der Königin ebenfalls, und auch ein Ehegatte. Er hatte so lange versucht, stark zu sein, aber damals konnte er nicht mehr. Theodosia wusste das alles. Sie wusste, dass er sich an sie wandte, weil er ihr vertraute – aber nicht, weil er sie liebte. Und da sie seine Freundin war, half sie ihm, die Fetzen und Trümmer des Mannes zusammenzusuchen, für den er sich immer gehalten hatte, und die Fragmente zu etwas zusammenzukleben, das diesem Selbstbild fast perfekt entsprach. Und kaum war das vollbracht, schob sie ihn sanft von sich fort. Für dieses Geschenk würde er sich niemals revanchieren können, das wiederum wusste er.
Dank seiner Freundin Theodosia – die seither immer nur eine Freundin gewesen war – überlebte er, und dabei entdeckte er etwas – oder entdeckte es vielmehr neu. Der Grund für seine Not, für die unerträgliche Last, die ihn schließlich gebrochen hatte, war das einfachste auf der ganzen Welt: Er liebte seine Frau. Er hatte sie immer geliebt und würde sie immer lieben. Nichts konnte das ändern, aber gerade darum schnitt der Schmerz so tief, und aus diesem Grund konnte er sich sein Unvermögen, alles in ›Ordnung‹ zu bringen, nicht vergeben – und hatte eine Freundin gebraucht, die ihn nach dem Zusammenbruch wieder aufrichtete.
Seine Frau hatte von der Affäre gewusst. Er sagte ihr nichts, aber das brauchte er auch nicht. Trotzdem hieß sie ihn jedes Mal mit ihrem Lächeln willkommen, bei dem es noch immer heller wurde im Raum … das ihm noch immer das Herz in der Brust schmelzen ließ. Sie sprachen nie darüber, und das war auch nie nötig. Die Informationen, das Wissen wurde auf einer unergründlichen, tieferen Ebene ausgetauscht, denn so gut sie wusste, dass er gegangen war, kannte sie auch den Grund dafür – und den Grund, weshalb er zu ihr zurückkam.
Er hatte sie kein zweites Mal verlassen. Zwar gab es im Laufe der kommenden über vierzig Jahre andere Frauen. Er und Emily entstammten aristokratischen Familien auf Manticore, dem kosmopolitischsten Planeten des Sternenkönigreichs, wo moralisch anders geurteilt wurde als auf der Grenzwelt Gryphon oder dem prüden Sphinx. Das Sternenkönigreich verfügte über legitimierte Berufskurtisanen, von denen neunzig Prozent auf dem Hauptplaneten gefunden wurden, und gelegentlich nahm White Haven ihre Dienste in Anspruch. Emily wusste davon, doch gleichzeitig stand fest, dass ihr Mann diese Frauen zwar mochte und respektierte, aber nicht wirklich liebte. Nach all den Jahren war es noch immer sie, mit der er alles teilte, nur nicht die körperliche Intimität, die sie auf ewig verloren hatten. Dass seine kurzlebigen Affären Emily verletzten, das wusste er – nicht weil sie sich betrogen fühlte, sondern weil es ihr vor Augen hielt, was das Schicksal ihnen genommen hatte. Deshalb war er dabei immer sehr diskret und hätte niemals zugelassen, dass irgendeine Affäre an die Öffentlichkeit drang. Niemals hätte er gestattet, dass auch nur die Andeutung eines Skandals Emily demütigte. Aber die Wahrheit verbarg er nicht vor ihr, denn er schuldete ihr Aufrichtigkeit. Gelähmt oder nicht, war sie nach wie vor einer der stärksten Menschen, die er kannte – und die einzige Frau, die er je geliebt hatte.
Bis jetzt. Bis Honor Harrington. Bis sich auf unerklärliche Weise beruflicher Respekt und berufliche Hochachtung verschmolzen, seine Wehr unterwanderten und ihn überfielen. Wie immer er sich verraten, wie immer er zumindest einen Teil seiner Gefühle offenbart hatte, niemals wäre er weiter gegangen. Doch nun, da sie tot war, konnte er sich nicht mehr belügen: was er für Honor Harrington empfunden hatte, war mit seiner Freundschaft zu Theodosia oder den diskreten Berufskurtisanen nicht zu vergleichen.
Nein, es war viel schlimmer. Es war so tief und intensiv – und kam ebenso plötzlich – wie das, was er vor so vielen Jahrzehnten für Emily empfunden hatte. Und deshalb hatte er auf eine makabre Manier, die im ganzen Universum niemand je würde entdecken können, beide Frauen verraten, die er liebte. Was immer er für Honor empfunden hatte, änderte nichts an seinen
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