Honor Harrington 9. Der Stolz der Flotte
sich das linke Hosenbein aufgerissen und das Knie darunter übel angeschlagen hatte. Inzwischen hatte sich zwar Schorf gebildet, aber das Knie schmerzte so stark, dass sie ein wenig hinkte. Der zweite Sturz war noch schlimmer gewesen. Ihr war nur eins übrig geblieben: den Arm um Nimitz zu schlingen und sich im Fall auf die rechte Schulter zu drehen, sodass sie darauf landete und sich abrollen konnte, sonst hätte sie Nimitz unter ihrem Gewicht erdrückt. Wie aus dem Nichts war Mayhew neben ihr erschienen und hatte ihr aufgeholfen. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, jede ›Verhätschelung‹ abzulehnen, die über eine unerlässliche Hilfeleistung hinausging, hatte sie sich mehrere Sekunden auf ihn stützen müssen, bis das Schwindelgefühl vorüber gegangen war.
Nun tastete sie die Schwellungen auf ihrer Schulter vorsichtig ab und empfand einmal mehr Erleichterung, dass sie sich keine Verstauchung zugezogen hatte. Gleichzeitig bewertete sie die Fortschritte des Trupps. Von ihrem Sitzplatz aus konnte sie den Himmel nicht sehen, doch hier und dort drang das Licht der Monde durch Lücken im Blätterdach und schuf auf Baumstämmen und Unterholz kleine, strahlende Flecken. Scheol müsste jetzt schon untergegangen sein , überlegte sie, und Tartarus versinkt in einer Stunde. Noch drei Stunden Dunkelheit blieben ihnen, um die letzten vier oder fünf Kilometer bis Camp Inferno zurückzulegen. Honor holte tief Luft und rappelte sich auf. LaFollet blickte sie fragend an, und sie klopfte ihm grinsend auf die Schulter.
»Ich mag vielleicht schwach sein, Andrew, aber hinfällig bin ich noch lange nicht.«
»Das habe ich auch nie behauptet, Mylady«, versicherte er ihr. »Ich finde nur, dass Sie halsstarriger sind, als Ihnen gut tut.« Behände erhob er sich und musterte sie forschend, dann nickte er und setzte sich ohne ein weiteres Wort wieder in Bewegung.
»Das also ist Camp Inferno«, brummte Honor.
Sie und die drei Graysons lagen bäuchlings auf einem kleinen, steilen Hügel östlich des Ziels. Das Kinn auf den Handrücken gestützt, beobachtete Honor das Lager. Etliche hohe Bäume wuchsen auf der Anhöhe und versprachen sowohl zusätzliche Deckung als auch Schutz vor der Sonne, die bald aufgehen würde. Zum größten Teil war der Hügel von mannshohem, steifem Gras bewachsen, dessen Halme wie Schwertklingen geformt waren. Im Gegensatz dazu hatten die Havies offenbar das Gebiet rings um die Gebäudeansammlung vollständig gerodet, als sie das Lager errichteten; es waren jedoch gewiss zwei oder drei Jahre vergangen, seit die Vegetation zum letzten Mal geschnitten wurde. Aus dem Gras der Lichtung ragten junge Bäume, und an der Westseite war der Zaun, der das Lager umgab, in eine dicke, blätterreiche Decke aus Ranken gehüllt. Alles in allem erweckte das Lager einen verfallenen, schlampigen Eindruck.
Andererseits konnte dieser erste Eindruck täuschen. Rings um die eingezäunte Fläche war das Gras auf einem fünfzehn Meter breiten Streifen geschnitten oder niedergetrampelt, und die Rankengewächse am Zaun mochten eigens gepflanzt worden sein. Eng nebeneinander standen gleich an der Innenseite des Zauns vier große Hütten, die ausschließlich aus einheimischem Material errichtet worden waren. Wenn Honor sich nicht irrte, würde das Rankendickicht ihnen ab Mittag Schatten spenden.
Einen Kilometer nördlich vom Lager erhoben sich aus dem Gras ein Landeplatz aus Betokeramik und mehrere Lagerschuppen; auf hohen, spindeldürr wirkenden Beinen ragte ein Wassertank aus Plastik mitten aus der eingezäunten Fläche auf. Mit endloser, mechanischer Geduld knarrte ein Windrad. Durchdringend und verloren zugleich störte das wehleidige Geräusch die vormorgendliche Stille; aus einem Überlaufrohr am Wassertank rann plätschernd Wasser. Eindeutig trieb das Windrad eine Pumpe an, die den Tank gefüllt hielt, doch ebenso eindeutig nutzten die Havies diese Maschinenkraft nicht im Mindesten, um Strom zu erzeugen.
Von ihrem Beobachtungsposten im hohen, steifen Gras aus sahen sie deutlich, welche Lichter Harkness vom Shuttle aus erspäht hatte. In jeder der vier Seiten des Zauns gab es ein Tor; alle vier waren im Moment geschlossen. Wege aus gestampfter Erde verbanden sie und kreuzten sich genau südlich des Wassertanks. Jeden dieser Wege säumte eine Doppelreihe aus trübe leuchtenden Laternen auf drei Meter hohen Pfählen. An der Kreuzung strahlten die Laternen erheblich heller.
»Was glauben Sie, wie viele sind in dem Camp,
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