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Hoppe

Hoppe

Titel: Hoppe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Hoppe
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wir kurzfristig frei und in Sicherheit, reden und singen wie Wasserfälle, egal, wer wen anruft, wer mit wem spricht, denn in Wahrheit sprechen wir nur mit uns selbst. Wir flüstern uns alles ins eigene Ohr und singen, ganze Nächte hindurch, alles in Schlaf, was am anderen Ende verzweifelt versucht, wach zu bleiben und Antwort zu geben, aber hörst du mir überhaupt zu? Ja, ich höre dir zu, nur dass du meine Stimme mal wieder mit deiner verwechselst, du sprichst nicht zu mir und ich nicht zu dir, weil du gar nicht auf Antwort wartest, sondern nur sprichst, um zu werden, was du längst bist: mutterseelenallein.
    Wann allerdings meine Mutter den Plan gefasst hatte, uns tatsächlich zu verlassen, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass sie es eilig hatte, mich vorher ›zum Tisch des Herrn‹ zu führen, denn wer am Tisch des Herrn essen kann, sagte sie, ist für immer in Sicherheit und geht niemals hungrig zu Bett. Wer dieser Herr war und wo sein Tisch wirklich stand, habe ich nie begriffen, so wenig wie ich begriffen habe, was ich jenem anderen Herrn sagen sollte, der mich, bevor ich zum Tisch des Herrn gehen durfte, plötzlich fragte, ob ich gesündigt hätte.
    Denn ich war fünf und ging nie hungrig zu Bett, von Sünden wusste ich nichts. Und meine Mutter beunruhigten Sünden nicht im Geringsten, und mein Vater wusste schon damals, dass es weder Himmel noch Hölle gibt. Trotzdem musste ich gehen, weil man nur durch den Tunnel der Gedanken, Worte und Werke zum Tisch des Herrn vordringen kann. Stell dir einfach vor, es wäre dein Vater, sagte meine Mutter, als sie mich in die dunkle Kabine schob, in der es eng war und stickig und seltsam roch, stell dir einfach vor, es ist dein Vater, der dich kurz vor dem Einschlafen fragt, woran du so denkst, wenn du nachts im Bett liegst, und was du dir für den nächsten Tag wünschst.
    Nur dass ich, wenn ich nachts im Bett liege, bis heute an nichts anderes denken kann als an meinen Vater und meine Mutter und daran, wie einsam die beiden sich fühlen, weil ich jetzt nicht mehr bei ihnen bin. Denn seit es mich gibt, lebe ich unerschütterlich fest in dem Glauben, dass ich nicht nur das größte, sondern auch das einzige Glück ihres Lebens bin, dass es kein anderes und größeres Glück geben kann, als mich zu haben. Niemand, dachte ich, kann meinen Eltern so fehlen wie ich, ganz egal, welche Sprache sie sprechen und unter welchem Namen sie unterwegs sind. Davon bin ich bis heute zutiefst überzeugt und sage es jedem, der es hören oder auch nicht hören will, und habe es auch jenem Mann gesagt, den ich hinter dem Gitter in der engen Kabine zu Breslau gar nicht erkennen konnte. Kann auch sein, dass überhaupt niemand da war, kein Mann jedenfalls, vielleicht nur ein Ohr, das riesige aufgespannte Ohr Gottes, das ganz auf A gestimmt war und plötzlich zu sprechen begann und mir den folgenden klaren Auftrag erteilte: Drei Vaterunser und Grüßmirmaria.
    Worüber mein Vater sich lustig machte, kein Sinn, kein Verstand, genau wie deine Mutter, sagte er, die dich andauernd in die Kirche schleppt. Aber hätte mich meine Mutter damals nicht in die Kirche geschleppt, wüsste ich bis heute nicht, dass es Pläne gibt, die für niemanden einsehbar sind, weshalb es mich nicht länger beunruhigt, dass mir niemals jemand erklären wird, wer eines Tages wen verließ, meine Mutter meinen Vater oder mein Vater meine Mutter oder ich alle beide auf einmal. Weshalb eine große und feierliche Last auf mir ruht, die bis heute dafür sorgt, dass ich fest auf der Erde stehe, mit beiden Beinen. Trüge ich nicht diese Last auf den Schultern, könnte es durchaus passieren, dass ich unvermutet, mitten im schönsten Spiel, von einer Musik weggetragen werde, die mich für immer vom wirklichen Leben trennt.
    Es war übrigens ein großer Tag, an dem meine Mutter mich zum Tisch des Herrn führte, ausnahmsweise kam auch mein Vater mit, blieb aber hinten an der Kirchentür stehen, während wir Kinder nach vorne gingen, die Jungs in kleinen schwarzen Anzügen und die Mädchen in Brautkleidern, mit Kränzen auf dem Kopf. Nur ich trug weder Brautkleid noch Kranz, sondern eine Art Schuluniform, einen schwarzweiß karierten Kleiderrock, der Martha Knit vermutlich gefallen hätte, weil er zwei besondere Taschen hatte, eine innen und eine außen, einen Rock, den mir mein Vater eigens für diesen Anlass genäht hatte und den ich noch Jahre später trug, als wir schon längst auf Reisen waren, denn er hatte ihn, wie

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