Hoppe
Leben, aus welchem Grund auch immer, einfach zu klein sind, weil sie niemals nach oben kommen. Sosehr sie sich recken und strecken, die Arme ausbreiten, die Zähne blecken, mit den Füßen treten, mit den Augen rollen und die Fäuste ballen, wie sie das Leben auch drehen und wenden, sie kommen einfach niemals nach oben, weil sie dafür nicht vorgesehen sind.
Falls irgendjemand hier (außer Phyllis, die immer im Bild ist) weiß, warum das so ist und woher all diese halbierten Glückskinder kommen, die der Rattenfänger nicht mitnehmen will (weshalb man sie nach Chittenango verbannt hat, wo sie bis heute auf ihre Erlösung warten) – falls also irgendjemand hier darüber Bescheid weiß, dann soll er jetzt, bitte sehr, sofort aufstehen und mir endlich erklären, nach welchem höheren Plan sich die Dinge ereignen, damit wir, die Regisseure und Gastdirigenten (untere Ränge auf Lebenszeit) endlich zur Ruhe kommen. Denn erst, wenn wir das begriffen haben, können wir endlich die Masken und Taktstöcke ablegen und die Kostüme für immer in den Schränken der Garderobe wegschließen, weil vielleicht dann endlich jene Stille eintritt, von der wir seit Jahren träumen.«
Hoppes Alltag in Chittenango dürfte von den hier nach typischer Hoppemanier mit großem Pathos aufgestapelten Sinnfragen allerdings weitgehend unberührt geblieben sein. Sowenig wir über ihren Aufenthalt in Upstate New York wissen, so sicher dürfen wir sein, dass Hoppes konkrete Arbeit vor Ort kaum jene langen melancholischen Schatten warf, die sie in ihrem Brief an Viktor Seppelt ausrollt, der, wie für Hoppes Schreiben insgesamt typisch, spätestens auf der dritten Seite vom hohen Pathos in die Beschreibung der fröhlichen Routine einer Maskenverwalterin übergeht, die an ihrer Arbeit offenbar großes Vergnügen hat und darüber hinaus jede Menge interessanter Bekanntschaften schließt. So berichtet Hoppe unter anderem von ihrer Begegnung mit zwei »bemerkenswerten Zwergen«, die sich, »glaub es mir oder nicht!, Mime und Alberich nennen und an denen Dr. Wagner (gemeint ist offenbar Mel Drugs/fh) sicher seine Freude hätte«.
Der Rest des Briefes besticht durch höchst unterhaltsame Ausführungen über den Alltag einer Paradespezialistin, die sich in diesem »großen Gewimmel von lauter selbsternannten Artisten, von denen die meisten, unter uns gesagt, über den Dreiviertelpurzelbaum selten hinauskommen«, vor Arbeit »kaum retten« kann und die neben Presseerklärungen und lästigen Telefondiensten nicht nur damit beschäftigt ist, die Paradetruppe entsprechend einzukleiden, zu schminken und zu frisieren, sondern auch alle Hände voll damit zu tun hat, eine Dokumentation über die Ereignisse zu erstellen.
Tatsächlich liegen dem Brief an Viktor, der insgesamt zwölf handschriftliche Seiten umfasst, eine Reihe von Fotografien bei, die Hoppes so nachlässige wie treffsichere Fähigkeit des Fotografierens demonstrieren. Als Fotografien zwar dilettantisch, spiegeln sie trotzdem höchst motivsicher Hoppes unbestechlichen Blick für den Moment wider. Sie war, ohne jeden ernsthaften Ehrgeiz, eine Meisterin des Schnappschusses. Besonders ein Foto, auf der Rückseite mit dem Vermerk »Mime bürstet Alberich« versehen, verdient besondere Aufmerksamkeit, weil es nicht zwei, sondern nur einen Zwerg zeigt (Mime?, Alberich?), der, mit einem Ausdruck groß gespielter Verzweiflung, vor einem Spiegel stehend, eine ungeordnete Mähne nach hinten zu kämmen versucht.
Es ist sicher kein Zufall, dass Hoppe ihren Brief, den sie übrigens, wie alle ihre Briefe an Viktor Seppelt, mit »Wicketoo« unterzeichnet, mit einem kleinen Exkurs über Frisuren und Spitznamen beendet, »denn hätte ich ihnen (Mime und Alberich, auch bekannt als die ›Schwestern Quast‹ (›The Quast Sisters‹), von denen nur die jüngere zwergwüchsig war, während die ältere ihr Leben mit dem sinnlosen Versuch verbrachte, diesen Streich der Natur wieder wettzumachen, wobei sie zweifellos den Kürzeren zog!/fh), an jenem Sonntag im Juni nicht entschieden jene neue Frisur und jene herrlichen neuen Namen gegeben, wüssten sie bis heute nicht, wer sie in Wahrheit sind. Schließlich sind es nicht unsere Geburtsnamen, diese so gut gemeinten und andauernd fehlleitenden Programme (das kann Felicitas, die das Glück im Namen trägt, nur an einen Freund schreiben, dessen Name Sieg bedeutet!/fh), sondern die Namen, die uns jene anderen geben, die lange nach unseren Eltern kommen und die auf ganz
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