Hornblower 10 - Hornblower in Westindien
Westindiens Krieg zu führen. Wo lag also des Rätsels Lösung?
Die Kaiserliche Garde in ihrer nun schon in die Geschichte eingegangenen Uniform mit der hohen Bärenmütze war in der Vorstellung aller Welt aufs engste mit der bonapartischen Tradition verbunden, die noch bis zur Stunde als politische Kraft weiterwirkte. Drohte also irgendwo eine bonapartistische Bewegung? Etwa in Mexiko? Ausgeschlossen! Oder gar in Frankreich?
Hornblower fühlte, wie ihm unter seinen nassen Sachen plötzlich warm wurde, weil ihm aus Freude über die gefundene Lösung das Blut heiß durch die Adern schoß. St. Helena! Dort war Bonaparte, ein Gefangener, ein Verbannter auf einer der einsamsten Inseln der Welt. Eine fünfhundert Mann starke, ausgebildete Truppe, die überraschend von einem Schiff unter amerikanischer Flagge an Land geworfen wurde, konnte ihn leicht befreien. Und was weiter? Es gab in der ganzen Welt nur wenige Schiffe, die schneller waren als die Daring . Segelte sie ohne Verzug nach Frankreich, dann langte sie dort an, ehe irgendeine Warnung die zivilisierte Welt erreichen konnte.
Bonaparte konnte also mit seiner Garde unangefochten landen - darum die Bärenmützen, darum die Uniformen! Jeder, der sie sah, dachte voll Wehmut an den Ruhm und die Größe des Kaiserreichs zurück, und schon eilte die Armee wieder zu ihren alten Fahnen, wie sie es bei seiner Rückkehr von Elba schon einmal getan hatte. Die Bourbonen hatten sich die freundliche Gesinnung des Volks schon wieder verscherzt - Sharpe hatte ihm erzählt, daß sie sich jetzt überall als internationale Drahtzieher betätigten, weil sie hofften, ihr Volk durch eine erfolgreiche Außenpolitik zu blenden. Bei der augenblicklich herrschenden Stimmung konnte Bonaparte zum zweitenmal auf Paris marschieren, ohne Widerstand zu finden. Und Europa geriet von neuem in den blutigen Teufelskreis von Sieg und Niederlage. Nach Elba mußte ein Feldzug von hundert Tagen geführt werden, bis sich das Schicksal Bonapartes bei Waterloo erfüllte. Aber diese kurzen hundert Tage kosteten hunderttausend Männern das Leben und verschlangen Millionen und aber Millionen an Geld. Diesmal war es vielleicht noch nicht einmal mit solchem Aufwand getan. Allzu leicht nur konnte es geschehen, daß Bonaparte in dem zerrissenen, von Leidenschaften aufgewühlten Europa sogar Bundesgenossen fand, und daß dann ein Krieg von nochmals zwanzig Jahren Dauer drohte, der dem armen alten Kontinent wohl den Rest gegeben hätte. Hornblower hatte schon zwanzig Jahre Kampf hinter sich, der bloße Gedanke, daß sich dieses Unglück für die Welt wiederholen könnte, machte ihn körperlich krank. Die Vorstellung war so ungeheuerlich, daß er seine Schlußfolgerungen noch einmal kritisch überprüfte, aber es war nicht daran zu rütteln, das Ergebnis blieb unweigerlich das gleiche. Cambronne war Bonapartist, wer einmal Oberbefehlshaber der Kaiserlichen Garde gewesen war, konnte nichts anderes sein. Hatte er seine Gesinnung nicht sogar selbst verraten, indem er Bonapartes Großen Adler der Ehrenlegion trug, statt den Grand Cordon der Bourbonen anzulegen, der an die Stelle des früheren Ordens getreten war? Er hatte das mit Vautours Wissen und Einverständnis getan. Vautour war wohl bourbonischer Beamter, aber er sann allen Anzeichen nach auf Verrat. Die Charterung der Daring , die Übernahme jener verhängnisvollen Ladung, all das konnte nur im Einverständnis und unter Mitwirkung der französischen Vertretung ins Werk gesetzt werden. Wahrscheinlich schwelte unter den Franzosen wieder eine neue bonapartistische Verschwörung. War das Verhalten der Baronin nicht der beste Beweis, daß es so etwas gab?
Mittelamerika und Westindien waren in Aufruhr, gewiß, aber es gab hier nirgendwo einen strategischen Punkt, der einem Angriff der Kaiserlichen Garde in voller Uniform und Bärenmütze ein lohnendes Ziel geboten hätte. (Hornblower hatte über dieses Problem lange genug nachgegrübelt, um zu wissen, daß es so war.) Nein, das Ziel hieß St. Helena und dann Frankreich. Davon war er jetzt felsenfest überzeugt. Das Leben von Millionen, der Friede der ganzen Welt hingen von dem Entschluß ab, den er in diesem Augenblick zu fassen hatte.
An Deck, grade über seinem Kopf, hörte er jetzt das Getrappel eiliger Füße, Tauwerk klatschte auf die Planken, Befehle wurden gegeben, die Crab knackte laut in ihren Verbänden. Die Kajüte neigte sich beim Segelsetzen unversehens tief nach der Seite. Da er nicht darauf gefaßt
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