Hornblower 11 - Zapfenstreich
englischen Kommandanten grober Übertretungen des Kriegsrechtes zu beschuldigen, könnte dazu dienen, Frankreich und Europa zu erklären, warum die Marine des Kaisers in letzter Zeit nicht allzu erfolgreich gewesen war. Aber vielleicht gab sich Bonaparte mit einer etwas milderen Maßnahme als Mord zufrieden - zum mindesten könnte es ihm vorteilhafter erscheinen, Hornblower den Prozeß zu machen, ihn zu verurteilen, ihn fast zu Tode zu erschrecken, um ihn dann mit einer großartigen Geste von Edelmut zu begnadigen. Das müßte doch in Bonapartes Augen ein wirkungsvoller Theaterauftritt sein, so etwa wie der feierliche Augenblick, als er in Gegenwart der Gräfin Hatzfeldt den Brief verbrennen ließ. Vielleicht könnte Lady Barbara ein persönliches Gnadengesuch für Hornblower bei Bonaparte einreichen? Nein, das war nicht ganz richtig. Oder vielleicht war das ein Thema, das eine genügende Ausarbeitung nicht zuließ. Nein - ich war auf einer falschen Fährte.
Das überraschte mich. Das sah ja aus, als gäbe ich zu, daß eine Fährte da war, der ich folgen sollte. Ich lag in meinem Bett und versuchte, endlich einzuschlafen, und doch wußte ich aus langjähriger Erfahrung, daß es kein wirksameres Mittel gibt, den Schlaf zu vertreiben, als um Mitternacht mit Plänen und Ideen zu liebäugeln. Ich hatte Hornblower zum Kriegsgefangenen gemacht - dabei sollte es bleiben. Der Roman kam demnächst heraus, ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ich legte die Lettres Inedites also zur Seite, knipste die Bettlampe aus und brachte mich in Schlafstellung - und war eine Stunde später wieder aus dem Bett, um nach einem noch langweiligeren Buch zu suchen, das mich vielleicht von diesen nagenden Gedanken ablenken konnte.
Natürlich nahm der Plan von selbst Form an; wenn sich das auch nicht an der Oberfläche zeigte, so war es doch wie das Wühlen eines Maulwurfs im Inneren spürbar. Sollte Hornblower nicht offiziell begnadigt werden, dann mußte er eben aus der Gefangenschaft entfliehen. Es gab eine ziemlich ausgedehnte Literatur über solche Ausbrüche aus den Gefängnissen des Kaisers, aber nichts von allem, was ich darüber gelesen hatte, schien mir wirklich befriedigend und überzeugend. Im Jahre 1810 war außerdem ein so großer Teil Europas unter französischer Herrschaft, daß Hornblower unmöglich ein neutrales Land erreichen konnte, selbst wenn die Flucht gelang.
Er mußte sich bis zum Meer durchschlagen. Natürlich mußte er das Meer erreichen! - es gab doch gar keine andere Lösung. Ich entdeckte, daß ich selbst geradezu danach schmachtete, daß es zu dieser Flucht käme; ich wünschte Hornblower leidenschaftlich, daß er der Haft entrinnen könne, die er bei seinem Temperament ganz unerträglich finden mußte. Er sollte dem trügerischen Land entfliehen und die Freiheit der See wiedergewinnen! Oh, das mußte eine lange und verzwickte Fahrt ergeben. Nun erlebte ich wieder einen der überraschenden Augenblicke, wo sich eine Idee ganz unerwartet einer anderen, scheinbar fernliegenden, zugesellt. Und wieder machte ich die Entdeckung bei der völlig belanglosen Durchsicht der Morgenpost, obgleich keiner der Briefe zu Hornblowers Flucht in Beziehung stand. Vor einigen Jahren war ich in einem Motorboot die Loire hinabgefahren - ungelesen legte ich einen Brief nieder und faßte die neue Erkenntnis ins Auge, daß Hornblower denselben Weg zur See benutzen konnte. Ein kleines Boot - ich hatte Monate, vielleicht ein ganzes Jahr in kleinen Booten verbracht - ein kleines Boot auf einem Fluß war ein sehr geeignetes Transportmittel für einen Flüchtling. Es schloß die Möglichkeit aus, sich zu verirren, und trug wesentlich dazu bei, den dauernden Kontrollen von Pässen und Papieren zu entgehen, denen die Reisenden im kaiserlichen Frankreich ausgesetzt waren. Und ganz besonders traf das für die Loire zu, die ich aus eigener Erfahrung als einsam, wenig benutzt, anscheinend unschiffbar und doch befahrbar kannte.
Vor Erregung jagte mir das Blut in den Adern. An der Grenze der Tiefseeschiffahrt der Loire lag die Stadt Nantes. Seefahrende Schiffe kamen bis an die dortigen Kais - ich erinnerte mich, sie dort gesehen zu haben. Vielleicht konnte Hornblower - plötzlich kochte ich über, und als die nervöse Erregung sich gelegt hatte, stand das Bild Hornblowers, wie er die Witch of Endor wiedergewinnt, lebendig und zwingend im Geiste vor mir.
Daraus ergab sich logisch ineinandergreifend dies und das in natürlicher Folge: um ein
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