Hornblower 11 - Zapfenstreich
doch, und zwar in der Technik. Ich war erstaunt zu entdecken, einen wie großen Teil der Denkarbeit ich früher immer stehend getan hatte. Es war mir in alten Tagen zur zweiten Natur geworden, umherzugehen, wenn ich den Denkmechanismus anregen wollte, weil es galt, eine besondere Situation durchzukonstruieren; so zum Beispiel, wenn es notwendig war, die entsprechenden Mittel bereitzuhalten, durch die Hornblowers Gefühle zum Ausdruck kommen konnten, oder, noch verzweifelter, die Umstände auszudenken, unter denen er dem Oberst Caillard entkommen konnte. Gerade beim Gehen, ob ich nun zu ebendiesem Zweck überlegend herumwanderte oder auch nur zufällig unterwegs war, um dorthin zu kommen, wohin ich kommen mußte, erzeugten sich die Ideen von selbst, und nicht einmal nur die unbedeutenden, sondern zuweilen ganze Hauptstücke der Erfindung. Laufen war nun nicht mehr möglich; ich mußte etwas anderes finden, das meinen Geist zur Tätigkeit anregte. Schon in meiner Knabenzeit gewöhnte ich mir an, beim Gehen nachzudenken, und während eines schöpferischen Lebens von mehr als zwanzig Jahren hatte sich diese Gewohnheit festgesetzt. Durch Überlegung konnte ich ebensowenig ein neues System ausdenken, wie ich durch Überlegung einen neuen literarischen Plan erfinden konnte. Der Ersatz fand sich durch einen glücklichen Zufall. Ich beschäftigte mich mit kleinen mathematischen Problemen; es handelte sich um nichts besonders Schwieriges, fast nur um reine Arithmetik und eher um Übungen in der Logik als in Algebra, die ich mir selbst auszudenken pflegte und mir dann zu lösen vornahm.
Dazu war ein wenig Erfindungsgabe nötig und ein gutes Maß an Geduld, um unstreitig zu beweisen, daß in der Aufgabe, die ich da vor mir hatte, A nur sieben und X nur neun sein konnte. Und in den kleinen Pausen zwischen dem Überlegen der mathematischen Aufgabe konnte ich über meine Fabel nachdenken. Die Arithmetik trug den Aufbau in sich wie ein Schwamm das Wasser.
Dann war da noch das absurde, lächerliche Spiel, das ich zum Essen der Suppe erfand. Ich habe noch keiner Seele je davon erzählt, dies ist ein erstes und öffentliches Bekenntnis: die Mahlzeit beginnt, und es wird eine Schale Suppe vor mich gestellt. Dann muß ich die Menge der Suppe in der Schale und den Inhalt meines Löffels schätzen und ausrechnen, wie viele Löffel ich brauche, um die Suppe auszuessen - all dies geht natürlich vor sich während der höflichen Unterhaltung, die man so bei der Suppe führt. Dann muß ich die Löffel, einen nach dem anderen, zählen und dabei wenigstens nach außen den Eindruck eines vernünftigen, normalen Menschen aufrechterhalten. Dr. Johnson konnte während des Spaziergangs munter reden und dabei unentwegt das Aufstoßen seines Spazierstockes weiterzählen. Ich kann dasselbe mit den Löffeln voll Suppe tun, selbst während der steigenden Aufregung, wenn ich beim vierundzwanzigsten Löffel bin und feststelle, daß nur ungefähr drei noch übrigbleiben und meine ursprüngliche Schätzung die Summe von achtundzwanzig ergeben hatte.
Wieso das Hornblower helfen konnte, ein Mittel zu finden, seine Kanonenboote in Schußweite der französischen Belagerungsbatterien zu bringen, kann ich mir nicht vorstellen, aber zum Glück war das der Fall.
Der Entwurf war also nun vollständig und das Buch zur Niederschrift fertig, aber die ewige Frage, ob und wann ich damit anfangen solle, war diesmal besonders schwerwiegend.
Unter Androhung schrecklicher Strafen war ich gewarnt worden, mich niemals der Ermüdung auszusetzen, nichts zu tun, was eine Erhöhung des Blutdrucks herbeiführen könnte, und ich wußte doch nur zu gut, wie mühselig der Prozeß des Komponierens und der geistigen Vergegenwärtigung war. Ich sagte mir, daß ein vernünftiger Mann sich mit der Freude am Entwurf zufriedengab und nun zum Leben eines Kohlkopfes zurückkehren und die Geheimnisse von Hornblowers Kampf in der Ostsee mit sich ins Grab nehmen sollte.
Da lag der Hase im Pfeffer. Als ich es in diese Worte faßte, wurde mir sofort und restlos klar, daß ich das nicht übers Herz brächte. Die Sache mußte einfach geschrieben werden. Ich konnte mir die unangenehme Tatsache nicht verheimlichen, daß es mich, vielleicht selbstgefällig, zur Äußerung drängte. Bisher hatte ich die Reihenfolge von Planung, Komposition und Veröffentlichung noch nie analysiert. Es war mir noch nie in den Sinn gekommen, daß diese Reihenfolge durchaus nicht festgelegt und unabänderlich ist,
Weitere Kostenlose Bücher