Hornblower Odyssee 01 - Diesseits Der Liebe
bebenden Händen schob er Libby ein wenig von sich fort. Ihr Atem ging ebenso stoßweise wie seiner, und sie schaute ihn aus großen Augen benommen an. Er fühlte sich genauso benommen, so als hätte er mit seinem Schiff im Flug eine Mauer gerammt.
Verwirrt hob sich Libby eine Hand an die Lippen. Was hatte Cal getan? Was hatte sie selbst getan? Sie konnte beinahe ihr Blut durch die Adern schäumen fühlen. Sie machte einen Schritt rückwärts, um festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, um einfache Antworten zu finden.
„Bleiben Sie." Er konnte nicht widerstehen. Vielleicht verfluchte er sich später dafür, aber jetzt konnte er nicht widerstehen. Bevor Libby noch ganz zu sich gekommen war, zog er sie wieder zu sich heran. Beide wussten, dass dies nicht geschehen durfte, aber Leidenschaft war stärker als Wissen. Libby war zwischen passiver Kapitulation und heftigem Verlangen hin und her gerissen, bis es ihr endlich gelang, sich mit einem Ruck aus Cals Armen zu befreien.
Beinahe wäre sie dabei gestolpert, doch sie hielt sich an der Rückenlehne eines Küchenstuhls fest, und ihre Finger verkrampften sich um das Holz. Schwer atmend und stumm starrte sie Cal an. Sie wusste nichts von ihm, sie kannte ihn nicht, und dennoch hatte sie ihm mehr geschenkt, als sie je einem anderen Menschen gegeben hatte. Ihr Verstand war darauf trainiert, Fragen zu stellen, doch im Moment hatte ihr zerbrechliches, unvernünftiges Herz die Oberhand.
„Wenn Sie hier in diesem Haus bleiben wollen, verlange ich, dass Sie mich nicht mehr berühren."
Cal erkannte die Furcht in ihren Augen. Er verstand sie, denn auch er fürchtete sich. „Für mich kam das ebenso unerwartet wie für Sie. Mir gefällt es ebenso wenig wie Ihnen."
„Dann dürfte es Ihnen ja nicht schwer fallen, dergleichen in Zukunft zu unterlassen."
Cal steckte die Hände in die Hosentaschen und wippte auf den Fußballen. Er fragte sich nicht, wieso er plötzlich so ärgerlich war. „Hören Sie, Sie haben dazu genauso viel getan wie ich."
„Sie haben mich gepackt!"
„Nein, ich habe Sie geküsst. Wenn hier jemand den anderen gepackt hat, dann Sie mich." Mit einiger Genugtuung sah er, dass sie errötete. „Ich habe mich Ihnen nicht aufgezwungen, Libby. Das wissen Sie ganz genau. Aber wenn Sie unbedingt den Eisberg spielen wollen, soll es mir recht sein."
Alles Blut verließ Libbys Gesicht, das jetzt blass und sehr starr wurde. Ihre Augen dagegen wurden dunkel und groß. Ihr erschütterter Blick traf Cal, der sich schon innerlich verfluchte.
Er trat einen Schritt auf sie zu. „Bitte, entschuldigen Sie. Es tut mir Leid."
Libby zog sich hinter den Stuhl zurück. „Ich verlange und erwarte keine Entschuldigung von Ihnen", erklärte sie sehr ruhig. „Allerdings erwarte ich ein angemessenes Verhalten."
„Ihnen soll beides zuteil werden", erwiderte er kühl.
„Ich habe zu arbeiten. Sie können den Fernseher mit in Ihr Zimmer nehmen, und auf dem Regal neben dem Kamin befinden sich Bücher. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir für den Rest des Tages aus den Augen blieben."
Er schob die Hände noch tiefer in die Hosentaschen. Wenn Libby dickköpfig sein wollte, bitte sehr. Das konnte er auch. „In Ordnung."
Mit vor der Brust verschränkten Armen wartete sie, bis Cal den Raum verlassen hatte. Am liebsten hätte sie ihm etwas hinterhergeworfen, vorzugsweise etwas Zerbrechliches. Er hätte nicht so mit ihr sprechen dürfen, nachdem er ihre Gefühle so durcheinander gebracht hatte.
Sie - ein Eisberg? Nein. Es war immer ihr Problem gewesen, dass sie viel zu gefühlsbetont war, dass sie viel zu viel begehrte. Was natürlich nicht auf persönliche, körperliche Zweierbeziehungen zutraf.
Plötzlich trübsinnig geworden, ließ sie sich auf den Stuhl sinken. Sie war eine anhängliche Tochter, eine liebevolle Schwester, eine treue Freundin. Aber sie war niemandes Geliebte. Noch niemals zuvor hatte sie ein solches Bedürfnis nach Intimität erfahren.
Mit einem einzigen Kuss hatte Cal ihre Sehnsucht nach Dingen geweckt, von deren Unwichtigkeit sie sich schon beinahe überzeugt hatte. Jedenfalls hatte sie gedacht, diese Dinge seien für sie unwichtig. Sie hatte ihre Arbeit, ihren Ehrgeiz und das Wissen, dass sie ihr berufliches Ziel erreichen würde. Sie hatte ihre Familie, ihre Bekannten, ihre Kollegen.
Verdammt noch mal, sie war glücklich! Sie brauchte keinen wilden Piloten, der zwar sein Flugzeug nicht in der Luft halten konnte, der es aber spielend schaffte, sie
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