Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
Bibliotheken. Wo steckten die anderen? Wieso funktionierten die Türen nicht mehr? Was musste er tun, um den Kampf gegen die Alten zu gewinnen? Alles sah so hoffnungslos aus und das Böse hatte mit einem ganzen Jahrzehnt Vorsprung offenbar schon gesiegt. Er brauchte nur zu fragen. Der Bibliothekar war eigentlich sehr hilfsbereit. Er war von Tausenden – Millionen – von Büchern umgeben und es schien, als wüsste er alles über die Vergangenheit und die Zukunft. Matt war allerdings sicher, dass diese Informationen ihren Preis hatten. Der Bibliothekar hatte ihm bereits angeboten, alles über seine eigene Zukunft zu lesen, aber das hatte er abgelehnt. War auch das ein Fehler gewesen?
Er hatte nach den anderen gesucht und sie nicht finden können. Vielleicht hatte er es nur getan, um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Doch eigentlich war ihm klar, dass ihm keine andere Wahl blieb. Er durfte nicht noch mehr Zeit verschwenden.
Und so fasste er einen Entschluss und kehrte um. Zur Bibliothek zurückzukehren erwies sich als verblüffend einfach. Seine Fußspuren waren im Staub so deutlich zu sehen wie die der Astronauten auf dem Mond, und sie führten bis zum Horizont. Er war tagelang, vielleicht sogar wochenlang gelaufen, aber für den Rückweg brauchte er natürlich nur ein paar Minuten – mit solchen Tricks musste man in der Traumwelt rechnen. Vor ihm ging es leicht bergauf – es war eine Sanddüne, aber sie war grau und nicht gelb. Er konnte locker hundert Kilometer oder mehr gelaufen sein, aber seine Beine waren kein bisschen müde, als er oben ankam und sich zwingen musste, auf der anderen Seite wieder hinunterzugehen.
Vor ihm breitete sich die Bibliothek in alle Richtungen aus. Es war immer noch schwer zu begreifen, dass das alles wirklich nur ein einziges Gebäude war, denn nachdem die einzelnen Bereiche für die dort eingestellten Büchermengen nicht mehr ausgereicht hatten, waren im Laufe der Jahrhunderte unzählige Abteilungen, Anbauten, Vorplätze, überdachte Gänge und Brücken errichtet worden. Hier gab es einen Band zu jedem Menschen, der jemals gelebt hatte, was bedeutete, dass es Milliarden sein mussten, nur um die zurzeit lebende Bevölkerung abzudecken. Fügte man dann noch tausend Jahre Geschichte hinzu, ganze Völker, die gewachsen und dann wieder ausgestorben waren, kam man auf eine Zahl mit so vielen Nullen, dass sie keinen Sinn mehr ergab.
Irgendwo unter ihnen war auch Matts Buch des Lebens. Er hatte es bereits in den Händen gehabt, sich aber geweigert, es aufzuschlagen und zu lesen. Das wollte er immer noch nicht. War das so schwer zu verstehen? Würde überhaupt jemand alles über seine Zukunft wissen wollen?
Er wanderte die Düne hinunter. Nach einiger Zeit spürte er Marmor unter seinen Füßen und erkannte, dass es derselbe Weg war, den er auch beim letzten Mal gegangen war. Der Haupteingang, den ein prunkvoller Bogen überspannte, in dessen Marmor Pflanzen und Tiere eingraviert worden waren, ragte über ihm auf. Die Front des Hauptgebäudes reichte bis in den Himmel. Falls sie so gebaut worden war, damit er sich klein und unbedeutend fühlte, dann erfüllte sie ihren Zweck. Mit hängendem Kopf trottete Matt weiter und betrat die Eingangshalle mit den gigantischen Säulen und der gewölbten Decke. Der Bibliothekar wartete bereits auf ihn, als wäre er nie fort gewesen. Er war nicht überrascht. Auch nicht besonders erfreut. Er war einfach da.
„Hallo, Matt“, sagte er.
„Hallo.“
Der Bibliothekar hatte Matt nie seinen Namen verraten. Matt hatte den Verdacht, dass er gar keinen hatte.
„Ich dachte mir, dass du irgendwann zurückkommen würdest. Wie kann ich dir helfen?“
„Sie wissen, was ich will. Wieso fragen Sie noch?“
„Du klingst müde. Möchtest du Tee?“
Der Bibliothekar hatte an einem Schreibtisch gesessen und mithilfe einer Lupe eine Manuskriptseite studiert.
Matt hätte beinahe gegrinst. Hatte jemand zwischen den Büchern randaliert? Und was war mit der bedauernswerten Person geschehen, aus deren Buch des Lebens eine Seite gerissen worden war? Der Bibliothekar legte seine Arbeit nieder und bedeutete Matt, ihm durch eine Tür zu folgen, die teilweise von einem Wandschirm verdeckt war. Auf der anderen Seite war ein kleiner, gemütlicher Raum. Seine Wohnung? Zwei flache Sofas standen beiderseits eines Tisches auf einem dicken Teppich. Der Tisch war bereits mit einer kupfernen Teekanne, zwei Gläsern und einer kleinen Schale Datteln gedeckt. Auch das wirkte
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