Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
vage an seinen letzten Besuch. Aber bei so vielen Büchern, die außerdem alle fast identisch aussahen, hätte er nicht gewusst, wo er mit seiner Suche anfangen sollte.
Der Bibliothekar stieg in die sechste Regalreihe, wandte sich nach links und ließ einen Finger über die Buchrücken gleiten. Schließlich blieb er stehen. „Das ist es“, sagte er, zog ein dünnes graues Büchlein heraus und übergab es Matt.
Matt wog es in der Hand. Sein erster Gedanke war, wie leicht es sich anfühlte, wie wenig sein Leben hergab. Er schlug die letzte Seite auf und einen verrückten Moment lang hatte er das Gefühl, wieder in der Schule zu sein, mit einem Buch, das er für den Unterricht lesen musste. Bücher zu lesen war ihm schon immer schwergefallen, und das hatte er stets als Erstes getan … nachgesehen, durch wie viele Seiten er sich quälen musste.
Sein Leben hatte hundertfünfzig Seiten.
Er wusste, dass ihm das Buch alles sagen würde, was er wissen musste, alles, was er je getan hatte, alles, was er je sein würde. Er war dieses Buch und plötzlich schlug ihm das Herz bis zum Hals. Sein Mund war trocken. Allein die Vorstellung, es aufzuschlagen und am Anfang anzufangen, machte ihn nervös. Aber sosehr er sich auch anstrengte, ihm fiel keine andere Lösung ein.
„Kann ich irgendwo hingehen?“, fragte er.
„Unten steht ein Tisch“, sagte der Bibliothekar.
Der Tisch passte in den Raum. Er war groß und unpersönlich und ein einzelner Plastikstuhl wartete bereits auf ihn.
„Ich bleibe in der Nähe“, sagte der Bibliothekar. „Ruf mich, wenn du fertig bist.“
Er ging weg.
Matt legte das Buch vor sich auf den Tisch. Der Einband war schlicht und hatte einen grauen Bezug. Es war kein Autor angegeben, es hatte keinen Titel und auch kein Titelbild. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er es für eine Abhandlung gehalten; vielleicht eine Studie, die niemanden interessierte, eines von den Büchern, die ganz hinten im Regal standen, weil sie ohnehin keiner lesen wollte. Er versuchte, sich klarzumachen, was gleich passieren würde. Das Buch beschrieb sein Leben. Wahrscheinlich würde es auch einen Abschnitt darüber enthalten, wie er hier in der Bibliothek saß und las. Und dann würde ihm das Buch verraten, was er als Nächstes getan hatte.
Er würde es wissen. Bedeutete das, dass er etwas anders machen konnte? Angenommen, das Buch sagte ihm, dass er beim Verlassen der Bibliothek von einem Pfeil getötet werden würde, konnte er dann nicht einfach bleiben, wo er war, oder einen anderen Ausgang benutzen? Aber wenn er seine Zukunft änderte, stimmte das Buch nicht mehr … und das war unmöglich, oder? Wenn es im Buch stand, musste es so passiert sein. Wer hatte das blöde Ding eigentlich geschrieben? Bei seinem letzten Besuch hatte Matt den Bibliothekar danach gefragt, aber er hatte es ihm nicht verraten.
Es spielte keine Rolle. Matt war nicht gekommen, um etwas zu ändern. Er war hier, um herauszufinden, was er tun sollte. Die Antwort lag vor ihm. Er schlug das Buch auf und fing an zu lesen.
Sechs Stunden später, ein ganzes Leben später, rief er nach dem Bibliothekar.
Er erschien augenblicklich. Matt saß noch immer am Tisch. Er war wie erstarrt und sein Gesicht leichenblass. Er sah krank aus. Seine Hände lagen zu Fäusten geballt vor ihm auf der Tischplatte. Das Buch lag mit der Rückseite nach oben zwischen ihnen.
„Du hast es gelesen“, stellte der Bibliothekar fest.
„Ja. Ich habe es gelesen.“ Matt schaute vorwurfsvoll zu ihm auf. „Sie wussten, was darin steht.“
„Nein.“
„Sie haben es nicht gelesen?“
„Nein.“
„Wieso haben Sie es mich lesen lassen?“, fragte Matt. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Weil es nicht meine Aufgabe ist, dich daran zu hindern“, antwortete der Bibliothekar. „Es tut mir leid. Ist es sehr schlimm?“
„Ich weiß, wie ich sterben werde!“ Matt hörte sich selbst diese Worte aussprechen, doch es war, als kämen sie von jemand anderem. Er dachte an die letzten zehn Seiten, die er gerade gelesen hatte. Die letzten zehn Seiten. Von hundertvierzig bis hundertfünfzig. Es würde keine Seite hunderteinundfünfzig geben. Nicht für ihn. „Ich habe gelesen, was von mir erwartet wird. Ich habe gelesen, was passieren wird. Es ist grauenvoll.“ Er zeigte mit einem zitternden Finger auf das Buch. „Man kann von niemandem verlangen, so etwas durchzumachen. Ich meine, niemand würde es tun, wenn er vorher wüsste, wie es sein wird.“
Der
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