Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
warteten die anderen draußen auf dem Flur auf sie: Matt, Pedro, Jamie und Scott. Wenn sie das nur glauben könnte, wären die Schmerzen nicht mehr so schlimm und sie würde sich nicht mehr so einsam fühlen.
Das war Welt Nummer eins.
Die reale Welt. Das Hier und Jetzt.
Aber manchmal kehrte sie auch zurück in das Leben, das sie hinter sich gelassen hatte, als sie nach Hongkong geflogen war, und in diesem Leben betrachtete sie sich selbst wie eine Person in einem Film. Da war sie … ein selbstbewusstes, fröhliches Mädchen, das sich in der Uniform einer schicken Londoner Privatschule (fliederfarbener Rock, gelber Pulli, alberner Strohhut) über den Bildschirm bewegte. Auf dem Heimweg, umringt von ihren Freunden. Sie musste sich selbst versichern, dass sie dieses Mädchen war und nicht etwa irgendeine Fremde, die sie nie wiedersehen würde.
Sie hatte in einem gemütlichen Haus in Dulwich gewohnt, mit einem Vorgarten, einem Gartenzaun und Mülltonnen, die einmal pro Woche geleert wurden. Alles hatte seine Ordnung. Schule von montags bis freitags und lästigerweise auch samstagvormittags. Selbst die Wochenenden liefen nach einem bestimmten Schema ab, denn dann traf sie sich mit Aidan, der gewissermaßen ihr erster fester Freund war, auch wenn keiner von ihnen diesen Ausdruck benutzt hätte. Sie gingen in den Park, zum Shoppen, ins Kino und zu Partys (aber um elf bist du zu Hause, sonst …). Rückblickend erkannte sie, dass sie ihr ganzes Leben verbracht hatte wie ein mit Nadeln festgesteckter Schmetterling in einem Schaukasten, aber sie hatte es so gewollt. Wollte das nicht jeder?
Natürlich hatte es auch blöde Situationen gegeben. Sie erinnerte sich gut an den Tag, an dem ihre Eltern ihr gesagt hatten, dass sie adoptiert war – was eigentlich keine große Überraschung war, weil sie ihnen mit ihrem indonesischen Aussehen, den langen tiefschwarzen Haaren und den grünen Augen kein bisschen ähnlich sah. Aber dass sie es ihr sagten, es erklärten, ließ es real werden und trennte sie irgendwie von ihnen. Plötzlich war es offiziell. Du gehörst nicht zu uns. Was, wenn sie es eines Tages satthatten und sie wieder wegschickten? Sie schuldeten ihr nichts. Was würde passieren, wenn ihre richtigen Eltern auftauchten und sie zurückverlangten? Sie war damals neun gewesen und dies waren die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen.
Als sie fünfzehn war, hatten sich Paul und Vanessa Adams scheiden lassen. Sie waren sehr zivilisiert vorgegangen. Es wurde weder mit Geschirr geworfen noch hetzten die beiden ihre Anwälte aufeinander. Aber Scarlett hatte sich dennoch erneut bedroht gefühlt. Alles, was sie für selbstverständlich angesehen hatte, brach um sie herum zusammen und sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Mutter zog weg. Ihr Vater wollte, dass sie mit ihm nach Hongkong ging. Während sich ihr Familienleben in Luft auflöste, musste Scarlett feststellen, dass sie kaum eine Chance hatte, ihre eigene Zukunft zu beeinflussen -und das machte sie wütend und ängstlich zugleich. Sie hatte sich sogar in ihr Zimmer eingeschlossen und geweint. Wie jämmerlich ihr diese Tränen jetzt vorkamen.
Scarlett fand, dass jetzt, da sie mit einer Schusswunde im Kopf im Bett lag, Tränen angebracht waren. Eines war jedenfalls sicher. Ihr altes Leben – Aidan, Dulwich und alles andere – war für immer Vergangenheit. Sie würde nie zurückkehren. Was aber auch egal war, weil sie vermutlich starb. Sie würde Matt nie wiedersehen. Vielleicht hatten die Alten gewonnen.
Sie war fest entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen. Irgendwie würde sie es aus diesem Krankenhausbett schaffen und wieder auf ihren eigenen Beinen stehen. Es war noch nicht vorbei. Sie würde sich wehren.
„Scarlett? Scarlett, kannst du mich hören? Ich bin bei dir. Es wird alles wieder gut.“
Jemand hielt ihre Hand. Es war Lohan, da war sie ganz sicher. Er war ihr durch die Tür und ans andere Ende der Welt gefolgt und war jetzt bei ihr, wie auch in Hongkong, als sie den Alten entkommen war. Sie versuchte zu sprechen, aber ihr Mund war zu trocken und außerdem war sie zu müde. Sie musste schlafen.
Denn der Schlaf beförderte sie in die Traumwelt – die dritte Welt –, die sie so gut kannte und schon besuchte, seit sie sich erinnern konnte. Hier, in dieser leeren Landschaft, hatte sie Matt, Pedro, Scott und Jamie zum ersten Mal getroffen, obwohl sie da ihre Namen natürlich noch nicht gekannt hatte. Anscheinend war die Traumwelt extra für sie
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