Hotel der Sehnsucht
wo sie sich befand.
„Gut geschlafen?" erkundigte sich Andre und erwiderte kurz ihren Blick, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf den starken Berufsverkehr lenkte.
„Sind wir etwa schon in London?" Samantha hielt es für besser, Andres Frage zu ignorieren. Selbst wenn es nach allem, was im Lauf des Tages geschehen war, lächerlich sein mochte, war ihr der Gedanke unangenehm, dass sie Andre Gelegenheit gegeben hatte, sie ohne ihr Wissen zu betrachten. Abrupt setzte sie sich aufrecht hin und wich tunlichst seinem Blick aus.
„Allerdings", bestätigte Andre und ordnete sich links ein, um an der nächsten Kreuzung abzubiegen.
Die Gegend, durch die sie fuhren, kam Samantha irgendwie bekannt vor, und auch den einen oder anderen Straßennamen meinte sie schon einmal gehört zu haben. Doch eine Erinnerung konnte sie mit nichts von alledem verbinden, so dass sie sich eher wie eine Touristin fühlte als jemand, der hier angeblich einmal gelebt hatte.
„Hast du nicht eben erzählt, dass dir sechs Hotels in London gehören?" vergewisserte sich Samantha. „Warum leistest du dir dann ein teures Privathaus, wenn du genauso gut in einer der Suiten wohnen kannst?"
„An was du alles denkst", spottete Andre und verzog belustigt das Gesicht. „Du warst doch früher nicht so knauserig!"
Samantha reagierte erstaunlich gelassen auf den Affront. Denn um ihn als Beleidigung oder Kränkung aufzufassen, wusste sie nur zu genau, dass sie die vergangenen zwölf Monate kaum überstanden hätte, wenn sie nicht, wie Andre es auszudrücken beliebte, knauserig gewesen wäre und jeden Penny zwei Mal umgedreht hätte.
„Jetzt mal im Ernst", fuhr Andre fort, „mehr als einige Tage haben wir es auch in den besten Hotels nicht ausgehalten. Erstens wurden wir ständig an die Arbeit erinnert, und zweitens fehlte uns ziemlich bald die Privatsphäre. Die kann einem auf Dauer nur ein richtiges Zuhause bieten."
Samantha war keinesfalls entgangen, dass er ständig von „wir" sprach - was ohne Zweifel sie selbst einschloss. Und doch zog sie es vor, es unkommentiert zu lassen und Andre nicht zu unterbrechen.
„Deshalb haben wir überall dort, wo wir uns öfter aufhalten, ein Haus oder zumindest ein Apartment. Als Erstes natürlich in New York, dem Sitz des Konzerns. Dazu kommen noch das Haus in London und Wohnungen in Paris und Mailand. Ach ja", ergänzte er die ohnehin schon beeindruckende Aufzählung, „falls uns mal der Sinn danach steht, einige Tage auszuspannen und faul am Strand zu liegen, gibt es noch die Villa in der Karibik. Wer so hart arbeitet wie wir, muss sich schließlich auch mal entspannen."
„Das mag ja sein", wandte Samantha ein, „aber braucht man dafür wirklich eine eigene Villa?"
„Brauchen vielleicht nicht", erwiderte Andre spitz. „Schaden kann es allerdings auch nicht. Denn wenn man sich erst an einen gewissen Lebensstil gewöhnt hat, ist man nicht mehr so leicht bereit, Abstriche davon zu machen. Das wirst nicht einmal du abstreiten wollen."
Schon wollte Samantha sich dagegen verwahren, dass Andre von ihr wie von einer
versnobten Gans sprach, als er unvermittelt rechts abbog und das Auto vor einem
schmiedeeisernen Tor zum Stehen brachte. Als es sich wie von Geisterhand öffnete, gab es den Blick auf eine schneeweiße Villa frei, die im Stil an jene Herrenhäuser erinnerte, wie sie früher für die Südstaaten der USA typisch waren.
Langsam lenkte Andre den schweren Wagen über einen Kiesweg, zu dessen Seiten sich gepflegter englischer Rasen erstreckte, und parkte am Fuß eines Vordaches, das von zwei Säulen getragen wurde.
Samantha öffnete die Beifahrertür und stieg aus, um sich einen ersten Eindruck von dem Haus zu verschaffen, in dem sie angeblich gelebt hatte. Es sah ausgesprochen vornehm aus, elegant und gepflegt, und doch wirkte es im Zwielicht der Abenddämmerung irgendwie kalt und abweisend.
Inzwischen war auch Andre aus dem Auto gestiegen und wartete gespannt auf ihre
Reaktion. Es hing so wahnsinnig viel von diesem Augenblick ab. Denn weder das
überraschende Wiedersehen im Tremount noch die Erwähnung des Bressingham hatten
vermocht, was er sich insgeheim davon versprochen hatte. Vielleicht konnte das Haus den Bann brechen, von dem Samanthas Erinnerung belegt war.
„Hier leben wir also?" fragte Samantha ungläubig.
Zur Bestätigung nickte Andre nur, weil er sich außer Stande sah, etwas zu erwidern. Zu groß war seine Erleichterung darüber, dass Samantha in der Gegenwart gesprochen
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