Hotel der Sehnsucht
fragte sie verunsichert und warf Andre einen Blick zu, in dem sich ihre ganze Verwirrung ausdrückte.
Doch Andre schien genauso überrascht zu sein wie sie, denn er stand regungslos da und sah unendlich blass aus.
„Ich muss mich setzen", sagte Samantha kraftlos und ließ sich auf einen Liegestuhl sinken.
Jetzt erst merkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte. Schützend schlang sie die Arme um den Oberkörper, doch auch das konnte die Angst nicht vertreiben, im nächsten Moment erfrieren zu müssen.
„Samantha!" Aus großer Entfernung drang Andres besorgte Stimme an ihr Ohr. Dann hörte sie seine Fußtritte auf den Fliesen. „Cara mia, lass mich erklären ..." hörte sie ihn sagen.
„Was verbirgt sich hinter der verschlossenen Tür im Obergeschoss?" Sie wusste selbst nicht, warum sie ihm diese Frage stellte.
Der Hall der Schritte verstummte. Samantha blickte auf. Nur eine Armeslänge entfernt stand Andre stocksteif da. „Nichts Besonderes", antwortete er, als er endlich die Sprache wieder gefunden hatte. „Nur einige alte Akten und persönliche Unterlagen ..."
„Lügner!" platzte Samantha heraus. Sie wusste genau, warum die Tür verschlossen war.
Es war die Tür zu Raouls Zimmer.
Raoul...!
Ohne einen Gedanken an ihre Verletzung zu verschwenden, sprang sie auf. Der Schmerz im Knie ließ sie unwillkürlich aufstöhnen. Schon wollte Andre ihr helfend zur Seite springen, doch im letzten Moment gelang es ihr, ihn mit einer Hand abzuwehren.
„Ich brauche deine Hilfe nicht", sagte sie bitter, bevor ihr erneut die Worte versiegten. In ihrem Kopf herrschte ein solches Durcheinander, dass sie sich außer Stande fühlte, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Mach dir doch nichts vor", wandte Andre ein. „Ich sehe dir doch an, dass du ..."
„Dass ich mich an alles erinnere?" Samantha schnitt ihm das Wort ab. „Siehst du mir das an?" Auch wenn Andre mit Sicherheit etwas anderes hatte sagen wollen, konnte ihm unmöglich verborgen geblieben sein, dass mit der Kraft und Plötzlichkeit eines Vulkans aus den tiefsten Schichten ihres Unterbewusstseins die Erinnerung hervorbrach.
Andre', ihr Vater, Raoul, das Bressingham - mit einem Mal stand ihr die fatale
Verbindung, die zwischen diesen scheinbar unzusammenhängenden Namen bestand, in aller Deutlichkeit vor Augen. „Andre!" rief sie atemlos um Hilfe, weil sie spürte, dass ihr die Kräfte schwanden.
Im selben Moment trat er hinter sie und legte ihr einen Bademantel um die Schultern.
Doch statt seine Hände zurückzuziehen, ließ er sie auf ihren Oberarmen ruhen und zog Samantha sacht, aber bestimmt vom Beckenrand weg. Offensichtlich hatte er Sorge, dass sie jeden Moment zusammenbrechen konnte.
Ganz unberechtigt war die Sorge nicht, denn unter ihren Füßen tat sich ein riesiger Abgrund auf, der nach und nach sämtliche Barrieren verschlang, die sie von ihrer
Vergangenheit trennten.
„Du hast mich angelogen."
„Angelogen nicht", widersprach Andre, und sein Griff wurde kaum merklich fester. „Die volle Wahrheit gesagt, aber zugegebenermaßen auch nicht."
Außer sich vor Wut und Enttäuschung, riss Samantha sich los. Zu ihrer Verwunderung versuchte Andre nicht, sie zurückzuhalten. Nicht einmal, als sie unsicher und leicht humpelnd aus dem Schwimmbad und ins Wohnzimmer ging.
Schweigend und mit bitterer Miene folgte Andre Samantha zu dem Sekretär, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Doch wie schon am Vormittag fand sie ihn auch jetzt verschlossen vor.
„Du hast den Schlüssel mitgenommen, als du das Haus vor einem Jahr verlassen hast", teilte Andre ihr mit und versuchte gar nicht erst, seine Genugtuung darüber zu verbergen, dass ihr der Inhalt einstweilen verborgen bleiben musste.
Doch ohne es zu wissen, hatte er Samantha das entscheidende Stichwort geliefert. Sie bückte sich und tastete die Unterseite des wertvollen Möbelstücks ab. Als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie einen goldenen Schlüssel in Händen. Es war der Ersatzschlüssel, den ihre Mutter dort versteckt hatte und der mitsamt dem Schreibtisch in Samanthas Besitz
übergegangen war.
Sie war erst fünfzehn Jahre alt gewesen, als ihre Mutter gestorben war, und der Gedanke daran erfüllte sie mit unendlicher Trauer. Immerhin besaß sie mit dem Sekretär etwas, das die Erinnerung an sie wach hielt - im Gegensatz zu ihrem Vater. Von dem, was er ihr hinterlassen hatte, war ihr nichts geblieben. Andre' hatte ihr alles genommen.
Um den Tränen nicht freien Lauf zu lassen, riss
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