Hotel der Sehnsucht
schließen.
Einzig der Gedanke, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten nichts anderes gemacht hatte, hielt sie davon ab. Sie hatte die Augen verschlossen, um der unerträglichen Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen, die darin bestand, dass sie einen Mann liebte, der sie vom ersten Tag an ausgenutzt hatte.
Dabei hätte es sie gleich stutzig machen müssen, wie eilig es Andre gehabt hatte. Kaum kannten sie sich, hatte er sie auch schon gefragt, ob sie seine Frau werden wolle. Im Nachhinein fiel es leicht, darin das durchsichtige Manöver zu erkennen, mit dem er sich das Bressingham hatte unter den Nagel reißen und den zahlreichen Mitbewerbern ein
Schnippchen schlagen wollen. Doch damals ...
Nun war das Bressingham nicht irgendein Hotel. Es war zwar alt und sicherlich nicht auf dem allerneuesten Stand. Dafür war es in aller Welt berühmt für seinen verschwenderischen Luxus, gepaart mit altenglischem Charme, dem sich niemand, der es einmal betreten hatte, entziehen konnte. Und das seit einhundertfünfzig Jahren.
Stefan Reece kannte es natürlich auch, und nicht zufällig hatte ein Schimmer in seinen Augen gelegen, als er bei ihrer Begegnung im Visconte Exeter das Gespräch darauf gebracht hatte. Und genauso wenig war es ein Zufall gewesen, dass er Samantha und nicht etwa Andre angesprochen hatte. Seit Generationen hatte es sich im Familienbesitz befunden, und sie war die Letzte, die diese Tradition hätte fortführen können.
Doch mit solchen Sentimentalitäten ließ sich natürlich nicht erklären, warum Leute wie Andre oder Stefan Reece alle Hebel in Bewegung setzten, um das Bressingham in ihren Besitz zu bringen. Für Männer dieses Schlages gab es nur zwei Gründe.
Der erste war die fantastische Lage mitten in der Londoner City, der zweite der bloße Name.
Denn der war möglicherweise mehr wert als das Hotel selbst. Ihn benutzen zu dürfen kam einer Lizenz zum Gelddrucken gleich. Da biss man gern in den sauren Apfel und kaufte die Erbin gleich mit. Immerhin war sie wenigstens jung, sah gut aus, und im Bett war sie auch zu gebrauchen.
„Wie kann man nur so naiv sein?" Samantha machte sich selbst schwere Vorhaltungen, dass sie Andres Absichten nicht von Anfang an durchschaut hatte. Vor Scham und Entsetzen schlug sie die Hände vors Gesicht - um sie im selben Moment vor Schreck wieder
herunterzunehmen, weil es an der Tür klopfte.
Die Vorstellung, Andre in die Augen sehen zu müssen, verursachte ihr regelrecht Übelkeit.
„Mach, dass du wegkommst!" rief sie ihm durch die geschlossene Tür zu, und um den Abstand zwischen sich und ihm zu vergrößern, ging sie ins Bad.
Doch selbst dort konnte sie hören, dass Andre mehrfach die Klinke herunterdrückte und an der Tür rüttelte. Er schien ihre Aufforderung, sie in Ruhe zu lassen, völlig zu ignorieren.
Unwillkürlich wurde sie an eine ganz ähnliche Szene erinnert, die sich vor ziemlich genau zwölf Monaten abgespielt hatte. Wie jetzt auch war sie ins Bad gegangen, um zu duschen -
allerdings ohne die Tür zum Schlafzimmer, das sie damals noch mit Andre teilte,
abzuschließen.
Raoul hatte die Gelegenheit genutzt und heimlich die Unterlagen, die sie eben in ihrem Sekretär gefunden hatte, aufs Ehebett gelegt. So leise, wie er gekommen war, hatte er den Raum wieder verlassen und war in sein eigenes Schlafzimmer zurückgegangen, um in Ruhe abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten.
Als Samantha aus dem Bad kam und den Stapel Papiere entdeckte, wusste sie instinktiv, was Raoul im Schilde führte. Denn nur eine Stunde zuvor hatte er sich ihr auf ziemlich eindeutige Weise genähert, woraufhin sie sich das ebenso eindeutig ein für alle Mal verbeten hatte. Sie mit den Dokumenten vom Verkauf des Bressingham zu konfrontieren war seine kleine Rache dafür und diente nur dem einzigen Zweck, Unfrieden zwischen ihr und Andre zu stiften.
Mit zunehmender Abscheu davor, wie tief ein Mann sinken konnte, las Samantha einige Seiten durch, bevor sie den Stapel unter den Arm nahm, um Raoul mit allem Nachdruck zu sagen, er solle seine Lügenmärchen für sich behalten.
Viel zu spät merkte sie, dass er mit ihrer Empörung gerechnet und seine ganze Strategie darauf ausgerichtet hatte, sie so in sein Schlafzimmer zu locken.
Denn kaum stand sie vor seinem Bett, machte er aus seinen wahren Absichten keinen Hehl. „Stell dich nicht so an, Sam", forderte er sie unzweideutig heraus. „Du nimmst es doch sonst auch nicht so genau. Selbst mein großer Bruder hat
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