Hotel Mama vorübergehend geschlossen
Kaffeehaus-Geiger zu, und ›Komponist‹ wäre zwar zutreffend gewesen, klang andererseits wieder zu sehr nach brotloser Kunst, so ähnlich wie ›Dichter‹, die ja heute meistens Lyriker heißen und ihren Lebensunterhalt als ›Botho von Steinbrink‹ oder so ähnlich mit dem Schreiben von Groschenromanen verdienen müssen, weil alle Welt zwar Gedichte liebt, doch kaum jemand sie auch kauft. Da Gisela noch keine Möglichkeit gefunden hatte, den Beruf ihres erfolgreichen Sohnes mit einem einzigen prägnanten Satz zu umreißen, trug sie ständig die Kopien zweier Kritiken mit sich herum – eine davon sogar mit Foto –, in denen die Rezensenten überregionaler Tageszeitungen jeweils drei Spalten Lobendes von sich gegeben hatten. Tinchen hatte auch eine Kopie bekommen und sie hinten auf den Bilderrahmen geklebt. Rüdigers Künstlerfoto mit persönlicher Widmung (»Für meine Tina, die beste aller Vizemütter«) stand nämlich an exponierter Stelle im Bücherregal, von Besuchern jedesmal mit der erwarteten Hochachtung bestaunt.
Achtunddreißig war Rüdiger im Herbst geworden, doch noch immer war er der schlaksige, 1,93 m große Junge geblieben, der Nonsens-Sprüche sammelte wie andere Leute Briefmarken, um sie bei jeder passenden oder meistens unpassenden Gelegenheit wieder von sich zu geben.
Auf ihn freute sich Tinchen wirklich. »Darf ich kommen«, hatte er am Telefon gefragt, »und noch eine Überraschung mitbringen?«
»Wie sieht sie denn aus?« hatte sie wissen wollen.
»Groß und dunkel.«
»Deine präzisen Angaben habe ich schon immer geschätzt«, hatte Tinchen lachend erwidert, »aber kannst du mir wenigstens sagen, ob die Überraschung mitessen wird?«
»Sie wird.«
»Am Tisch oder darunter?«
»???«
»Groß und dunkel kann auch ein Dobermann sein!« Damit hatte sie den Hörer aufgelegt und vergessen zu fragen, von wo Rüdiger angerufen hatte, wann genau er kommen wollte und ob seine Eltern überhaupt etwas davon wußten. Ohnehin hatte Tinchen den Verdacht, daß sich Rüdiger bei ihr häufiger meldete als bei Gisela und Fabian.
»Die ersten beiden Tischgäste stehen also fest«, murmelte sie vor sich hin, während sie neben Rüdigers Namen eine 2 notierte, »Gisela hat sich schon vor Wochen angemeldet, ich muß sie bloß noch anrufen und fragen, ob Fabian mitkommt oder wieder kneift.« Im letzten Jahr hatte er sich nämlich mit einem Freund zusammen in eine Skihütte irgendwo in den Schweizer Bergen verdrückt.
Ihren Schwager mochte Tinchen eigentlich recht gern, obwohl er im Gegensatz zu seinem Bruder ein eher stiller und introvertierter Mensch war, aber wenigstens Humor besaß – ein Charakterzug, der seiner Frau völlig abging.
»Das ist auch so eine von den Beziehungen gewesen, die bei Wein und Gesang angefangen und bei Milch und Gebrüll geendet haben«, hatte Florian mal geäußert. »Die beiden haben sich beim Sortieren von alten Knochen kennengelernt, und weil die bestimmt nicht vollzählig gewesen sind, werden sie ihre anatomischen Studien wohl am lebenden Objekt fortgesetzt haben. Clemens war jedenfalls eine Frühgeburt.«
Natürlich hatte Tinchen gewußt, daß Fabian Archäologie studiert und ausgerechnet an dem Tag seinen Doktortitel bekommen hatte, als sein jüngerer Bruder durchs Abi gesegelt war. Und weil es sich so gehörte, hatte Herr Dr. Fabian Bender seine Kollegin Gisela natürlich sofort geheiratet. Die hatte ihrerseits jedoch keine Lust verspürt, Beruf und Karriere ihrem ›kleinen Mißgeschick‹ zuliebe aufzugeben. Sie sorgte dafür, daß es möglichst bald einen Spielgefährten bekam, überantwortete die beiden Knaben geschultem Personal und widmete sich dem gesellschaftlichen Aufstieg ihres Gatten und damit auch ihrem eigenen. Als aus dem Doktor Bender ein Herr Professor geworden war, wurde Sohn Rüdiger geboren, womit Gisela ihre familiären Pflichten als erfüllt ansah und nunmehr ihre eigene Karriere ins Auge faßte. Schließlich war sie erst achtundzwanzig.
Melanies Ankunft zwei Jahre später war von ihr nicht geplant und erst recht nicht begrüßt worden, sie war auf ein offenbar defektes Fieberthermometer sowie auf die bekanntlich recht unzuverlässige Methode nach Knaus-Ogino zurückzuführen gewesen. Fabian dagegen war vor lauter Freude über seine kleine Tochter zwei Tage lang nicht mehr nüchtern geworden (dieses Phänomen war in den Annalen der Familie Bender als absolute Sensation vermerkt und durch zwei aussagekräftige Fotos untermauert), und bis zum
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