Hotel Mama vorübergehend geschlossen
Sorbonne für französische Literatur und – ausgerechnet! – Anglistik ein.
Soweit Tinchen sich erinnerte, war Melanie jetzt sechsunddreißig Jahre alt und im fünfzehnten oder sechzehnten Semester. Den Heiligen Abend werde sie natürlich zusammen mit Jean-Pierre bei seinen Eltern im Elsaß verbringen, doch am ersten Feiertag käme sie gerne. Das zumindest war der Stand vom 2. November gewesen, und seitdem hatte Tinchen von ihrer Nichte nichts mehr gehört. Sie malte ein Fragezeichen hinter ihren Namen.
Der nächste auf ihrer Liste war Clemens, Fabians Ältester und wohl auch der einzige, der alle in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt hatte. Arzt war er geworden, genauer gesagt Neurologe, durfte sich inzwischen Professor nennen, lehrte und arbeitete in Tübingen und wohnte in der zwar etwas baufälligen, aber standesgemäßen Villa seiner verstorbenen Großeltern. Das hatte seine Vor-, jedoch auch nicht unerhebliche Nachteile. Sein Großvater, ein über die deutschen Grenzen hinaus bekannter Archäologe, hatte über fünfzig Jahre lang in Tübingen gelebt, seine beiden Söhne waren dort aufgewachsen, und speziell Fabians Kinder hatten später auch häufig einen Teil ihrer Schulferien bei den Großeltern verbracht. Der Bendersche Familienclan war also stadtbekannt, und es konnte Clemens gelegentlich passieren, daß ein schon etwas älterer Mitbürger nach kurzem Zögern auf ihn zukam und ihm kräftig die Hand schüttelte. »Na, wenn das nicht der kleine Bender ist, der immer meine Kaninchen mit dem Katapult beschossen hat …?«
Der kleine Bender, nunmehr dreiundvierzig Jahre alt und selbst Vater zweier munterer Rangen, hatte diese Beweise von Anhänglichkeit anfangs noch schmunzelnd ertragen, doch seitdem ihm auf dem Markt eine dralle Blumenfrau mit Dutt und Kittelschürze um den Hals gefallen war – »Ich werd' verrückt, der Clemmi mit den linken Händen! Weißt du noch, wie du mir damals mein Transistorradio auseinandergenommen und nicht wieder zusammengekriegt hast?« –, überließ er das Einkaufen doch lieber seiner Frau.
Bevor sie ihre Liste weiterhin mit Fragezeichen bepflasterte und hinterher genauso schlau beziehungsweise so unwissend sein würde wie vorher, griff Tinchen nach einem Blick auf die Uhr zum Telefon. Halb sechs, also müßte, rein theoretisch natürlich, Clemens zu Hause sein.
Er war es nicht, vielmehr war Katrin am Apparat. »Hallo, Tina!« rief sie lachend, »es muß doch so etwas wie Telepathie geben! In spätestens zehn Minuten hätte ich dich nämlich angerufen!«
Es folgten ein paar Minuten belangloses Geplauder, wobei Tinchen erfuhr, daß es in Tübingen zwar lausig kalt sei, jedoch leider kein Schnee läge, daß Matthias unter Liebeskummer leide (der Knabe war gerade elf geworden) und Michael sich den kleinen Finger gebrochen habe. »Kannst du mir mal erklären, wie man das schafft, wenn man lediglich eine ganz normale Badezimmertür öffnen will?«
»Nein, aber frag ihn doch mal, ob er versucht hat, an der Klinke zu schaukeln und gleichzeitig mit der Fußspitze den Klodeckel zu öffnen.«
»Geht denn das überhaupt?«
»Eben nicht«, sagte Tinchen trocken, »deshalb hat sich ja Tobias seinerzeit auch gleich die ganze Hand gebrochen.«
Am anderen Ende der Leitung gluckste es leise. »Kleine Jungs sind wie Zwiebeln. Du entfernst Schale für Schale, und was übrigbleibt, ist zum Heulen.«
»Ich habe gerade wieder so ein Prachtexemplar im Haus«, bestätigte Tinchen. »Ulla hat gestern ihre beiden Rabauken bei mir abgeladen, weil sie in Ruhe Weihnachtseinkäufe machen will, und nun hat sie offenbar vergessen, sie wieder abzuholen. Kleine Frage nebenbei: Besitzt du einen Toaster?«
»Ja natürlich, warum?«
»Versteck ihn!« In wenigen Sätzen erzählte sie von Tims Versuch, seine Handschuhe zu trocknen. »Man kann's den Gören nicht mal verübeln, wenn sie sich die Technik zunutze machen, sie werden ja von klein auf an die ganzen Apparate gewöhnt. Das fängt beim elektrischen Flaschenwärmer an und hört beim batteriebetriebenen Töpfchen mit Musikeffekt noch lange nicht auf. Als ich so alt gewesen bin wie Tim heute, da hielt ich Vatis neuen Plattenspieler, der zehn Schellackplatten aufnahm und sogar selbsttätig wechselte, für das Nonplusultra technischer Errungenschaften.«
»Das wird es wohl damals auch gewes … Michael! Leg sofort den Bart wieder hin! Der ist doch noch gar nicht richtig trocken! Ich hab dir schon zehnmal gesagt, du sollst nicht … Raus!
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