Hotel Mama vorübergehend geschlossen
eins auswischen, kleine Rache für die Geschichte mit dem Herd, und dazu brauche ich deine Hilfe. Am Telefon kann ich dir das nicht verklickern, das dauert zu lange, deshalb wollte ich dich irgendwo in der Stadt treffen. Ich lade dich auch zum Essen ein!« versprach sie, wohl wissend, daß Gerlach gerade mal wieder seine gesundheitsbewußte Phase hatte, auf das Kantinenessen verzichtete und sich, wie er behauptete, überwiegend von Obst und Grünfutter ernährte. »Wieso zeigt die Waage beim Arzt immer ein paar Pfunde mehr an als meine eigene?« hatte er sich bei Florian beklagt, in einer Hand den Tennisschläger, in der anderen einen Bund Mohrrüben, »eigentlich sollte ich jetzt bei der Grundsteinlegung zu diesem Multimedia-Bau sein, aber da gibt's nach den ganzen Reden ein kaltes Büffet, und das grenzt an Masochismus. Ich habe Meier Zwo geschickt, der kann's vertragen.«
»Seit wann hast du Kaninchen?« hatte sich Florian mit einem beziehungsreichen Blick auf die Möhren erkundigt.
»Idiot! Das ist mein Abendessen! Kommst du mit, ein paar Bälle übers Netz dreschen?«
Er hatte abgelehnt, allerdings die Dummheit begangen, Tinchen von Gerlachs asketischen Ambitionen zu erzählen.
»Dir würde es auch gut tun, wenn von deinem Bauch etwas weniger und von deiner Taille etwas mehr zu sehen sein würde«, hatte sie gemurmelt, jedoch einsehen müssen, daß sämtliche Versuche in dieser Richtung vergebliche Liebesmüh gewesen waren. »Ich bin absolut diät-untauglich«, hatte Florian behauptet. »Als du mich vor unserem Sommerurlaub wieder mal auf halbe Kost gesetzt hast, habe ich nicht ein einziges Pfund abgenommen!«
»Ich weiß«, hatte Tinchen geseufzt, »deshalb hatte ich ja diesmal auch keinen Schwimmring für dich mitgenommen!« Insgeheim beglückwünschte sie sich aber doch, weil Florian allen Frotzeleien zum Trotz noch immer recht passabel und keinesfalls wie kurz vor sechzig aussah. Frau Klaasen-Knittelbeek hatte ihn bei ihrem ersten Zusammentreffen sogar erst auf Anfang fünfzig geschätzt, aber das hatte natürlich nicht gegolten; damals hatte sie bloß ihre Lesebrille aufgehabt und die andere nicht finden können.
Erwartungsgemäß lehnte Gerlach die Einladung zum Mittagessen ab, war jedoch bereit, sich mit Tinchen im Café zu treffen, sofern sie nicht einen Tisch mit Blick aufs Kuchenbüffet wählen würde.
»Wir können ja zu Tchibo gehen, da gibt's keins!«
Sehr zufrieden mit sich legte sie den Hörer auf. Dann griff sie – weitaus weniger zufrieden – zu der Liste, die sie schon seit Tagen vom Tisch auf den Hocker und wieder zurück gelegt hatte, unter Zeitschriften versteckt, im Nachttisch vergraben und dann doch wieder ausgebuddelt und gestern schließlich sichtbar an den Gummibaum gelehnt hatte, damit sie diese unerläßliche Klärung einer wichtigen Frage nicht länger vor sich herschieben würde. Nämlich die Frage: Wer würde sich wann die Ehre eines Besuchs geben, oder, korrekt ausgedrückt: Wer würde ihnen wann und vor allem wie lange auf den Wecker fallen?
In früheren Jahren war das keine Frage gewesen. Heilig Abend hatte bei den Eltern stattzufinden mit Karpfen in Lebkuchensoße und Zitronensoufflé, danach Bescherung unter der Edeltanne, untermalt von den ›glockenhellen Stimmen‹, (Originalton Frau Antonie) der Wiener Sängerknaben in Stereo, und gegen zweiundzwanzig Uhr gemeinsames Nüsseknacken mit Reminiszenzen à la »Weißt du noch, Ernst, wie wir im Herbst sechsundvierzig jeden Abend bei dem Baum hinten am Depot nachgesehen haben, ob nicht ein paar Haselnüsse über den Zaun gefallen sind, die wir dann bis Weihnachten aufheben wollten? Ich glaube, neun Stück haben wir sammeln können, bevor der Baum abgeerntet wurde.« Solange Tobias und Julia klein gewesen waren, wurden sie bei beginnender Müdigkeit in die großelterlichen Betten gepackt; später hatten sie ihr Mitspracherecht benutzt und auf einer früheren Heimkehr bestanden, was einer Umgehung des Nuß-Rituals gleichkam. Zuhause hatten sie vor dem Kamin Kartoffelsalat mit Würstchen gegessen, Glühwein getrunken und auf Karsten gewartet, der nur auf eine passende Gelegenheit lauerte, um sich ebenfalls zu verdrücken. Meistens war es sehr spät, besser gesagt, sehr früh geworden, bevor alle in ihren Betten verschwunden waren, und Frau Antonie hatte wohl nie so ganz verstanden, weshalb ihre Nachkommen am nächsten Mittag erstens reichlich unausgeschlafen und zweitens mit bemerkenswert wenig Appetit im traditionellen
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