Hotel Mama vorübergehend geschlossen
Gänsebraten herumstocherten.
Oft genug hatte Tinchen diesen immer gleichen Ablauf der Festtage verwünscht, allerdings nie laut dagegen protestiert, sondern sich nur vorgenommen, im nächsten Jahr ganz bestimmt zu streiken und sich mit einer noch unbekannten Krankheit drei Tage lang ins Bett zu legen; und dann hatte sie sich doch wieder zusammen mit ihren Lieben Punkt halb acht um den elterlichen Eßtisch versammelt und die Gräten aus dem Karpfen gepult.
Das alles hatte sich erst geändert, nachdem Tobias geheiratet und Julia das Studium begonnen hatte. Für ein schreiendes Baby hatte Frau Antonie ›einfach nicht mehr die Nerven‹ gehabt, Karstens Marion hatte sie noch nie leiden können, und Julias Hippiefreund hatte wegen seines 30 Zentimeter langen Zopfes von vornherein Hausverbot bekommen.
Es wurde zwar immer noch gemeinsam Weihnachten gefeiert, aber nun nicht mehr in der Lohengrinstraße bei Toni und Ernst, sondern zwei Ecken weiter im Nibelungenweg Nr. 5. Und seitdem trauerte Tinchen der gedämpft-feierlichen Atmosphäre im Elternhaus nach, dem festlich gedeckten Tisch und sogar Frau Antonies Pfefferkuchen-Karpfen, der ihr zwar nie so richtig geschmeckt hatte, den sie aber wenigstens nicht selber hatte zubereiten müssen. Seit etlichen Jahren fielen nämlich alle bei
ihr
ein, und statt am frühen Nachmittag die Geschenke einpacken und sich dann in aller Ruhe umziehen zu können, stand sie um sechs Uhr noch in der Küche, rührte die letzte Fondue-Soße an und jagte Florian durch die Nachbarschaft, weil die Brennpaste nicht reichen würde oder, wie letztes Jahr, im ganzen Haus kein Korkenzieher zu finden war, obwohl sie mindestens drei Stück besaßen. Karpfen oder überhaupt ein Drei-Gänge-Menü gab's bei ihr nicht, viel zu viel Aufwand und ohnehin nichts für die Kinder. Zwar hatte sich Frau Antonie ein paar Jahre lang angeboten, Tinchen bei den Vorbereitungen zu helfen, doch das hatte sich auf eine ›anständige Mahlzeit‹ bezogen und nicht auf diese ›neumodischen Fondues, bei denen man sich hungrig ißt‹. Was Frau Antonie allerdings nicht daran hinderte, sich an jedem Heiligen Abend Punkt achtzehn Uhr von ihrem Schwiegersohn abholen zu lassen, denn »Weihnachten ist doch nur dort richtig schön, wo auch Kinder sind«. Daß sie noch vor der Bescherung diese ›kleinen Ungeheuer‹ am liebsten für den Rest des Tages in die Toilette gesperrt hätte, schien sie regelmäßig zu vergessen.
»Was iß denn Fon-dü?« hatte Tanja kürzlich gefragt, als Tinchen das selten benutzte Geschirr aus der hintersten Ecke des Küchenschranks geholt und vorsichtshalber erst einmal in die Spülmaschine gestellt hatte.
»Irgend so ein Käseadel«, hatte Tim geantwortet, denn sein bester Freund im Kindergarten hieß auch mit von vorne dran, und die Mami hatte ihm erklärt, daß dieses Von ganz früher mal eine Rolle gespielt hatte, weil diese Menschen von Fürsten und Grafen abstammten, also von Adel waren und blaues Blut hätten. Damals hätten sie auch meistens in Schlössern oder Burgen gewohnt, seien reich gewesen und hätten viele Dienstboten gehabt, aber heute gebe es das kaum noch.
So richtig hatte Tim das nicht verstanden. Natürlich wußte er, was ein Graf ist und ein Fürst, die kamen immer in den Märchenbüchern vor und fuhren in goldenen Kutschen herum, aber das mit dem blauen Blut konnte nicht stimmen. Als der Phil neulich beim Pfeileschnitzen mit dem Messer abgerutscht war, hatte er so geblutet, daß sein ganzer Ärmel rot gewesen war. Dabei hätte der doch eigentlich blau sein müssen! Und reich war Phils Mutter auch nicht, die hatte ja nicht mal ein Auto. Aber nett war sie, gar nicht so eingebildet wie die Grafenfrauen in den Märchen.
Tinchen setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch, holte aus dem obersten Schubfach ihre dritte Reservebrille, übrigens die einzige, die sie immer auf Anhieb finden konnte, und vertiefte sich in die sogenannte Gästeliste. Die stammte noch vom vergangenen Weihnachtsfest und brauchte nur nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge korrigiert zu werden, was allerdings nicht bedeutete, daß dies dann die letzte Fassung sein würde. Einen endgültigen Überblick über die Anzahl der abzufütternden Verwandtschaft würde sie erst am Heiligen Morgen haben, und selbst dann war nicht auszuschließen, daß jemand kurzfristig absagte oder einfach nicht kam, während ein anderer zwei weitere Gäste mitbrachte. Rüdiger zum Beispiel war immer für eine Überraschung gut.
Von
Weitere Kostenlose Bücher