Hotel Nirgendwo - Roman
schob er mich von sich weg, wahrscheinlich weil ich noch kuscheln wollte. Dann holte er einen elektrischen Rasierapparat aus seiner Ledertasche, die er quer über die Schulter trug. Er führte uns vor, dass das Gerät auch ohne Strom perfekt funktionierte. Er machte den Apparat an und rasierte sich am Tisch, um uns das ganze Wunder vor Augen zu führen. Oma beugte sich zu ihm vor und sagte: »Sag mal, ist irgendwas mit dir, mein Lieber?« Er schob barsch ihren Arm zur Seite und sagte: »Na, lass mal gut sein, Oma.« Aus seiner Geldbörse holte er das Bild meines kleinen Cousins hervor, den keiner von uns je zu Gesicht bekommen hatte, und sagte, wir sollen das Foto behalten. Dann war es für ihn an der Zeit, wieder aufzubrechen. Oma fing an zu weinen. Er sagte: »Was ist nur los mit dir, sieh doch, wie gut es dir hier geht.«
Wir begleiteten ihn zur Tür, und als wir alle wieder in der Wohnung waren, sagte Mama: »Er wird euch im Sommer einladen.« Später hörte ich, wie sie zu Željkas Mama sagte: »Von dem habe ich nichts anderes erwartet.« Mein Bruder schwieg die ganze Zeit und schrieb irgendetwas in sein Tagebuch. Ich ging ihm ins Zimmer nach. »Was denkst du«, fragte ich ihn, »warum hat er uns nicht eingeladen?« – »Weil er doch selbst nicht zu Hause ist, sondern mit der humanitären Hilfe durch Kroatien herumfährt. Er macht das Gleiche wie Papa«, sagte er. – »Wir gehen bestimmt im Sommer zu ihm«, sagte ich. – »Raus mit dir!«, schrie mein Bruder mich ohne jeden Grund an. – »Von dir habe ich nichts anderes erwartet«, fauchte ich ihn an und ging nach draußen.
*
Es war früh am Morgen, und ich lag wach im Bett, oder besser gesagt, ich lag auf dem Fußboden und hatte das Gefühl, vertraute Stimmen aus der Küche zu hören. Neben mir lag niemand, was bedeutete, dass alle schon vor mir aufgestanden waren, obwohl es Samstag und also kein Schultag war. Mir kam der Gedanke, ich könnte noch träumen und mich in einer Art Halbschlaf befinden. Ich ging so nahe wie möglich an die Tür heran, presste meinen Kopf gegen sie, um besser zu hören, was draußen gesprochen wurde. Es gab keinen Zweifel. Ich stürzte in die Küche und sah meine Großeltern, Mamas Eltern, die alle zusammen am Tisch saßen. Wir waren davon ausgegangen, dass sie nicht mehr lebten. Die Stadt war fünf Monate zuvor gefallen, und wir hatten seitdem nichts mehr von ihnen gehört. Oma fing an zu weinen, Opa zog mich zu sich und setzte mich auf seinen Schoß. Oma konnte sich nicht von der Stelle rühren, weil fast ihr ganzer Oberkörper in Gips war. In ihrer Gegend waren offenbar die etwas weniger brutalen Tschetniks unterwegs, die nicht einfach wahllos auf alle geschossen haben, nein, sie zwangen die Leute lediglich dazu, ein Papier zu unterschreiben, aus dem hervorging, dass sie ihnen ihr Haus schenkten. Dann schmissen sie Oma und Opa aus ihrem eignen Haus hinaus, und Oma brach sich auf dem Weg den Arm.
Wir waren über alle Maßen glücklich, dass die beiden noch am Leben waren. Nun lebten wir zu acht in der Wohnung. Oma und Opa teilten sich mit Papas Mama, meiner anderen Großmutter, das Zimmer. Sie bekamen eine Klappcouch, weil sie zu zweit waren, und die andere Oma schlief auf zwei zusammengerückten Sesseln. Alle, die überlebt hatten, waren nun hier mit uns versammelt, und das war schön. Es kamen neue und andere Probleme hinzu, weil das Geld immer knapper wurde, aber gleichzeitig mehr Leute durchgefüttert werden mussten. Es war für uns alle eine Belastung, dass meine Großeltern mit der anderen Oma nicht besonders gut auskamen. Oma fand, dass sie ein Vorrecht auf die Wohnung hatte und die beiden Nachzügler sich ihr gegenüber zurückzunehmen hatten. Immerhin waren wir alle wegen meinem Papa hier, und er war schließlich ihr Sohn. Mamas Eltern machten eine ähnliche Rechnung auf, sie waren der Ansicht, dass es ihre Tochter war, die hier alles zusammenhielt und für alle sorgte und dass sie als ihre Eltern deswegen einen besonderen Status haben sollten. Aber das war nicht alles, sie hatten noch einige andere Ansichten, die sie regelrecht zu Feinden machten.
Eines Morgens wurden wir um fünf Uhr früh von Geschrei aus ihrem Zimmer geweckt. Mama rannte sofort zu ihnen. Oma warf wild irgendwelche Sachen um sich und war gerade dabei, Großvater mit einer Pantoffel zu attackieren. Sie schrie ihn an, er sei ein verfluchter Partisan, der im Zweiten Weltkrieg Brücken bombardiert habe.
Es stimmte, dass Großvater in
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