Hotel Nirgendwo - Roman
nicht zu Fuß über die Grenzübergänge gehen. An dieser Stelle war das Spiel jedes Mal zu Ende, weil ich zu weinen begann. »Wir haben doch nur gespielt«, sagte mein Bruder dann.
Irgendwann kam mein Bruder aufs Gymnasium. Er wollte lieber die Handelsschule besuchen, aber unser Vater schrieb ihn ins Gymnasium ein, und sie stritten sich deshalb heftig. Ich weinte damals, weil er mir leid tat. Ich weinte in der Regel immer, wenn ihm etwas zustieß, er aber lachte mich in der umgekehrten Situation aus. Außerdem wusste ich nie, wann er die Wahrheit sagte und wann nicht. Eine ganze Zeit lang glaubte ich ihm alles, nahm ihm sogar die Geschichte ab, dass er und Mama und Papa vor meiner Geburt in einem deutschen Schloss gelebt haben und ganz viele Pferde hatten. Als ich zur Welt gekommen war, sagte er, war ihnen das Geld ausgegangen, und so waren sie gezwungen, nach Jugoslawien umzusiedeln.
Ich liebte und hasste ihn zugleich, weil er so groß und klug war, ich hingegen wirkte neben ihm ziemlich beschränkt. Einmal bekam ich in der zweiten Schulklasse eine Vier, und er erzählte mir, dass würde bedeuten, dass ich das Halbjahr mit einer Zwei abschließen würde, die dritte Klasse mit einer Drei, die vierte mit einer Vier, und in der fünften würde ich dann durchrasseln, weshalb ich später mit meinem Ehemann in einem feuchten Keller mit nur einer Glühbirne landen würde.
Als wir nach Zagreb kamen, begleitete er Mama überallhin. Sogar zu der Lebensmittelausgabe, die oft erst spät am Abend stattfand, und auch ins Rathaus, wo er, was typisch für ihn war, prompt einen Streit mit irgendwelchen Politikern anfing. Mama erlaubte ihm alles, er durfte lange aufbleiben und mit den Erwachsenen zusammensitzen, die in ihre Gespräche vertieft waren. Nur zur Armee durfte er nicht. In der neuen Schule traf er aber auf alte Freunde aus Vukovar, mit denen er früher manchmal Barrikaden aufgestellt hatte, was unsere Eltern aber nicht wissen durften. Ihr neuester Plan war, wieder nach Vukovar zurückzukehren. Glücklicherweise waren sie noch nicht volljährig, es hätte sie also ohnehin niemand genommen.
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon länger nichts mehr von unserem Onkel gehört. Wir nahmen an, dass er seine Gründe hatte, sich nicht bei uns zu melden, und wir hatten kein Geld, um ihn in Deutschland anzurufen. Eines Tages sagte Großmama, er habe bei der anderen Verwandtschaft in Zagreb angerufen und würde schon morgen in der Stadt sein. Wir waren überglücklich. Oma freute das auch, aber sie schämte sich sehr, weil er uns in dieser erbärmlichen Lage sehen würde, es hieß, er leide arg wegen seines Bruders, er hätte es schwerer als wir anderen. Er tat mir leid. Mein Bruder und ich haben die ganze Nacht kein Auge zudrücken können. Wir glaubten, dass unser Onkel zu Besuch kommen und uns, sobald das Schulhalbjahr vorbei war, über die Ferien zu sich nach Deutschland einladen würde. Schon früh am Morgen erwarteten wir ihn ungeduldig, und Mama machte einen Kuchen. Er kam spät am Nachmittag und war ein bisschen wütend, weil der Strom wieder ausgefallen war und er zu Fuß in den fünfzehnten Stock gehen musste. Er brachte meinem Bruder eine Tüte voller alter Kleidung. Mir brachte er Aufkleber für meine Schulhefte mit, sie hatten verschiedene Farben und die Form von Tieren. Ich konnte mich nie überwinden, sie zu benutzen, und irgendwann trockneten sie aus und fingen an, sich zu wellen. Eines Tages schmiss ich sie schließlich weg. Er trank nur eine Tasse Kaffee und erzählte uns, dass er durch die Umstände gezwungen worden war, mit dem Rauchen aufzuhören. Er war in großer Eile, weil er irgendwelche Lastwagen transportieren musste, er gab uns deutlich zu verstehen, dass er in Zagreb lediglich auf der Durchreise war. Ich schlich die ganze Zeit um ihn herum und wollte mich auf seinen Schoß setzen. Er hob mich hoch und sagte: »Na, Kleine, wie geht’s? Bist du fleißig in der Schule?« – »Ich habe nur Einsen zum Halbjahr bekommen«, sagte ich, »und ich nehme teil an einem Kroatisch-Wettbewerb.« Die Worte schossen nur so aus mir heraus. Er roch so gut und erinnerte mich in allem an Papa.
Mein Bruder erzählte ihm, dass er mit Mama im Regierungsgebäude gewesen ist und dass er dort den Leuten gesagt hat, wenn sie unseren Fall nicht lösen würden, käme er mit einer Matratze wieder und würde vor dem Gebäude kampieren. Unser Onkel lachte, als hätte er einen guten Witz gehört, und dann lachten auch wir. Bald
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