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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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aufzuräumen. Onkelchen Grgo wartete immer auf uns, kochte Mama einen Kaffee und goss sich selbst ein Glas Whisky ein. Dann sprachen wir über meinen Vater. Er wiederholte ständig, dass Papa ein guter Mensch war, aber dass er das auch wegen Mama war und dass er nicht einmal den eigenen Bruder so lieben würde wie ihn. Mama hatte es manchmal eilig und wollte alles so schnell wie möglich fertig machen. Er aber saß da, den Kopf in die Hände abgestützt, und brütete über seinen Papieren. Am Schluss seufzte er und wiederholte mehrmals: »Ich hätte nicht weggehen, ich hätte in der Stadt bleiben sollen!«
    Jede Saison bekamen wir alle neue Schuhe. Mama bekam sogar ein Weihnachtsgeld. Dann machten wir das, was alle anderen um die Feiertage herum auch machten: Wir erledigten unsere Weihnachtseinkäufe.
     
    *
     
    Wir nahmen für gewöhnlich die Tram Nummer 6 ins Stadtzentrum. Die Straßenbahnstation war nicht weit entfernt von unserem Hochhaus, aber bis zur Innenstadt war man lange unterwegs, deshalb machte ich mich nie alleine, sondern immer nur zusammen mit Mama auf den Weg, meistens wenn sie zur Arbeit fuhr. Ich schlich um die Schule und in den Straßen des neuen Viertels herum und versuchte, die Umgangssprache und die mir unbekannten Wörter zu verstehen, und zwar ohne nachzufragen, denn ich wollte auf keinen Fall als Dummkopf dastehen. In Vukovar sagten wir zum Beispiel nicht Salzgebäck, sondern Hörnchen, das Wort Bauchfleisch fand ich nicht so schön wie den Ausdruck Bauchspeck, den wir benutzten, ein Irrer war hier ein gewöhnlicher Kretin, und dann gab es noch eine ganze Reihe bürgerlicher Ausdrücke, die von Viertel zu Viertel variierten. Die Zagreber fanden meine Art zu reden lächerlich, weil ich die Wörter beim Aussprechen langzog, und nachdem ich einmal erzählt hatte, meine Mama hätte bei der Caritas nagelneue Farmerhosen für mich gefunden, anstatt einfach Jeans zu sagen, wurde ich nur noch Landei und Flüchtling genannt.
    In meiner Neu-Zagreber Schule waren alle wahnsinnig modern, sie lernten ab der sechsten Klasse Englisch, trugen jeden Tag andere Kleider und hießen Lana und Borna. Niemand wollte sich mit mir anfreunden, aber dann lernte ich in unserem Viertel die drei Jahre ältere Vesna kennen, mit der ich jeden Tag viel Zeit verbrachte. Später zogen auch die Geschwister Josip und Marija in unsere Nachbarschaft. Sie kamen aus Bosnien, und ihre Mutter lud mich jede Woche zum Börek ein.
    Vesna wohnte in einer der einfachen Arbeiterwohnungen, die mit Blech ausgelegt waren. Ich saß oft auf einer Bank vor ihrem Haus. Eines Tages setzte sie sich einfach zu mir und fing an, mit mir zu reden. Als wir uns kennenlernten, sagte sie, ihre Tante aus Amerika sei gerade zu Besuch, und ich sagte, dass mich das sehr freuen würde. Aber ich wunderte mich ein wenig, dass sie Zeit hatte, vor dem Haus herumzulungern, wenn doch ihre Tante, die so weit weg wohnte, zu Besuch war. Zwei Jahre später begriff ich erst, dass auch ich eine Tante in Amerika hatte, es geschah im Geschichtsunterricht, ich spürte etwas Warmes zwischen meinen Beinen und verstand plötzlich, dass meine Freundin damals von ihrer ersten Periode gesprochen hatte.
    Vesna war hochgewachsen und schmal, nicht wirklich schön, hatte aber wunderschöne lange Fingernägel, die sie rot lackierte und die sie ständig pflegte. Sie war alles andere als eine Einserschülerin, doch sie war immer freundlich, auch zu den viel jüngeren Mitschülern. In ihrer kleinen Wohnung, in der ich nie gewesen bin, lebte sie mit ihrer Mutter, die nachts arbeitete, es gab auch einen Vater, der hatte aber wohl irgendwann aufgehört, nach draußen zu gehen, und schaute nur noch Fußball. Es gab noch Vesnas Bruder Mladen, der wiederum war nie zu Hause, hing immer im Stadion herum und lieferte sich Schlägereien mit den Jugendlichen aus Trnje. Sie waren echte Zagreber, aber im Sommer fuhren sie selten weg, nur manchmal in die städtischen Naherholungsgebiete.
    Als mich Mama einmal losschickte, um Papas Foto für das Archiv des Roten Kreuzes zu fotokopieren, zeigte Vesna mir den Kopierladen in unserem Viertel. Farbfotokopien waren teuer, aber wir hofften, dass es sich auszahlen und jemand Papa auf dem Foto erkennen würde. Er lächelte darauf und sah sich selbst eigentlich überhaupt nicht ähnlich, weil die Hälfte seines Gesichtes von Omas Terrassendach überschattet wurde. Das Foto war im Garten gemacht worden. Das war in jenem letzten Sommer, als wir noch alle beisammen

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