Hotel Nirgendwo - Roman
gleichen Alter und fast alle gleich mittellos. Wir jedoch kamen aus einer richtigen Stadt, mit einem Marktplatz, barocken Häusern, wir hatten ein Stadtcafé und sogar einen Nobelpreisträger. Die anderen hatten dagegen nur ein Eiscafé und einen armseligen Kommunisten, der jetzt Präsident und für den ganzen Schlamassel hier verantwortlich war. Unsere Argumente waren unschlagbar. Und dabei rede ich noch gar nicht von so Dingen wie dem Gestank, der von den Schweinchen ausging, von ihren kniehoch vor Dreck triefenden Stiefeln, den betrunkenen Schülern der höheren Klassen und den naiven Mädchen, die schwanger wurden. Einige wenige Schweinchen kamen aus den Dörfern, in denen es eine Schule und Straßenbeleuchtung gab. Die meisten kamen aus verstreuten Siedlungen, zu klein, um einen eigenen Namen zu haben, weshalb sie unter »Zagorje-Dörfer« zusammengefasst wurden. Diese Schweinchen verstanden wir überhaupt nicht, wenn sie sprachen, klang es für uns wie eine Mischung aus Albanisch und Slowenisch. Wir nannten sie Sozialfälle, obwohl wir alle gleichermaßen dem Staat auf der Tasche lagen, nur dass sie es freiwillig taten, weil sie dumm und faul waren, wir aber wegen der Serben. Wir hassten sie genauso wie sie uns, wir prügelten uns einzeln mit ihnen und in Gruppen. Wir waren in ihren Augen Eindringlinge, die ihnen das Leben schwermachten, nichts weiter als Flüchtlinge, denen man saftige Pensionen und Videorecorder schenkte und die in einem Hotel lebten, in dem sie sich den ganzen Tag bedienen ließen. Sie hätten eine ganze Kuh dafür hergegeben, um nur eine Woche so zu leben wie wir. Andererseits wussten wir nicht einmal, ob Kühe eigentlich Hörner hatten, weshalb sie sich über uns lustig machten. Sie verstanden nicht, warum uns das nicht kränkte.
Dickwanst, Vesna aus Vukovar und Brđanka, die aus dem Hinterland kam und eine sehr gute Freundin von mir wurde, gingen mit mir in eine Klasse. Ivan war auch dabei, er brach aber die Schule schon nach einem Jahr ab, und so blieben in unserer Klasse nur wir drei übrig. Am Anfang lachten wir über die meisten unserer Mitschüler, aber mit jenen, die einigermaßen auf ihr Äußeres achteten, sich wuschen und passable Noten hatten, pflegten wir diplomatische Beziehungen. Zum einen lag das daran, dass wir sie rein sprachlich verstanden, zum anderen konnten wir ab und zu bei Schularbeiten von ihnen abschreiben. Und manchmal wollten wir einfach nur nicht allein sein. Mit den Jahren entwickelten sich aus diesen Beziehungen nahezu richtige Freundschaften, doch wir blieben irgendwie immer wir und sie blieben anders. Solche Ausnahmen gab es ohnehin kaum. Die meisten waren typische Einwohner der Zagorje-Dörfer. Die Brüder Ivek und Marijan etwa gingen fünf Kilometer zu Fuß bis zur nächsten Haltestelle, wo sie dann um sechs Uhr morgens in den Autobus stiegen, der eine große Runde über die umliegenden Berge machte, bevor er sie um vier Uhr am Nachmittag wieder zurückbrachte. Marijan war Drittklässler, still und zurückhaltend, ihm fehlte ein Vorderzahn. Ivek war leicht zurückgeblieben, aber viel größer als Dickwanst und konnte jeden Tag im Jahr einem bestimmten Heiligen zuordnen. Das war aber auch schon alles, was er konnte. Er saß in der Schule mit Zdenko zusammen, der schrecklich dick und strohdumm war. Nach einem Kroatischtest tauchten plötzlich zwei Arbeiten mit seinem Vor- und Nachnamen auf. Die zweite war die von Ivek. Beide schafften es irgendwie, sich bis zur achten Klasse durchzumogeln. Dann gab es noch Gelbgesicht, er saß immer auf der Eselsbank, war klein und verdorben. Oft kam er schon betrunken zur Schule, weil er zum Frühstück Brot in Wein tunkte, er lebte bei seiner Hebamme, die ihm erzählt hatte, dass Jesus genauso gegessen hätte, was er dann uns weitererzählte. Auch Ivek schaffte es irgendwie, die Grundschule hinter sich zu bringen. Vor mir saß Veronika, die immer nach Schweinestall roch, sie hatte fettiges Haar und blaue Glupschaugen.
Mit dem Nachnamen hießen sie alle Antolić, Županić oder Broz. Zu Veronika hatte ich lange gar keinen Kontakt, dann freundete sich mein Opa irgendwo mit ihrem Vater an, der dem Alkohol genauso zugeneigt war, und gab ihm für seine Familie Sachen von der Caritas mit, die wir nicht brauchten, UN-Shampoos und Zahnpasten, von denen Veronika sagte, sie würden so wundervoll schäumen und riechen. Sie wurde mit der Zeit sehr freundlich zu mir. Wir hatten weiterhin nicht allzu viele Gesprächsthemen, weil sie
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