Hotel Nirgendwo - Roman
vorbeikam, hatte sie keine Ahnung davon und konnte sich deswegen auch nicht ärgern.
Mein erster Besuch in der Sieben fand statt, als unsere Flüchtlingsunterkunft von einem Arzt aus Vukovar inspiziert wurde. Er brachte jeder im Hotel registrierten Person eine Stange roter Marlboros mit. Und ich glaube, er gab sie nicht nur den Erwachsenen, sondern tatsächlich jedem, der im Hotel lebte. Vor dem Hotel standen ein Lastwagen, aus dem die Leute die Zigarettenkisten herauskarrten, und weiter vorne am Eingang zwei Männer, die sich akribisch Zimmernummern und Namen der Bewohner notierten. Ich stellte mich mit den anderen in die Schlange. Nach einer halben Stunde händigte man mir drei Stangen aus, und ich machte mich auf den Weg nach Hause. Unterwegs fasste ich den Entschluss, Mama zu sagen, dass man mir nur für sie und für meinen Bruder jeweils eine Stange gegeben hatte. Dann klopfte ich an der Sieben an. Drinnen war nichts zu hören, und ich setzte mich auf die Holzbank, versteckte aber die Stangen hinter meinen zusammenpressten Waden, für den Fall, dass jemand Bekanntes vorbeikam. Schon bald sah aus der Dunkelheit des Raumes Miro auf den Flur hinaus: »Was is’«, sagte er, »was hast du hier verloren?« – »Ich habe euch Zigaretten mitgebracht«, sagte ich leise. Er nahm mir die Stange aus der Hand und schlug die Tür hinter sich zu. Plötzlich war Dragan hinter mir, er machte die Tür wieder auf, und als er auf der Schwelle stand, fragte er: »Was machst du hier?« – »Ich habe euch Zigaretten mitgebracht«, wiederholte ich. Er fing an zu lachen und entblößte dabei seine gelben Zähne. »Willste reinkommen? Weißt du, was sie drinnen machen?« Er schnitt Grimassen. Ich versuchte über seine Schulter zu sehen, aber alles war dunkel, deshalb konnte ich nichts erkennen, außer ein paar Silhouetten auf der Couch. Ich hörte Miros Stimme und die eines Mädchens. »Was macht ihr denn da?«, fragte ich. – »Pfandspiele im Dunkeln«, rief mir Miro zu. – »Und jetzt hau ab, ja? Komm aber ruhig an Silvester wieder«, sagte Dragan und machte eilig die Tür zu.
Ich hätte ihnen die Zigaretten nicht geben sollen, sagte ich mir immer wieder, während ich die Treppen nach unten lief. In unserem Zimmer übergab ich Mama die beiden Zigarettenstangen. – »Mehr hat man mir nicht gegeben«, sagte ich. »Es wundert mich nicht«, sagte sie, »dass sie uns auch das gekürzt haben, wenigstens werde ich nicht mehr so viel rauchen.« Sie atmete durch. Ich war erleichtert, dass sie nichts gemerkt hatte, setzte mich auf ihren Schoß und umarmte sie. Von da an grüßte mich Miro immer auf dem Flur. Meine Freundinnen wollten wissen, woher ich ihn kannte, und ich tat so, als hätte ich keinen blassen Schimmer. Kurz vor Silvester fing ich an, einen bügellosen BH zu tragen, und an Silvester gelang es mir, Marina und Jelena in die Sieben einzuschmuggeln.
*
Im Kabinettszimmer Nummer 1 war die Ambulanz untergebracht. Unsere Schwester Ružica und Doktor Pajcek arbeiteten dort. Die Schwester gab uns manchmal Plastikspritzen, Verbandszeug und leere Medikamentenschachteln zum Spielen. Wir trieben uns sehr häufig vor der Eins herum, wo sich auch der improvisierte Warteraum befand, der im Grunde nur der Teil des Flurs war, der das Treppenhaus mit dem Erdgeschoss verband. An der Wand gegenüber der Tür standen an die zehn Stühle, die während der Öffnungszeit der Ambulanz immer alle besetzt waren. Der Warteraum war meistens voll mit alten Menschen. Auf der linken Seite, in der Nähe des Ausgangs, spielten wir immer Seilspringen. Im ganzen Hotel gab es unzählige Plätze, die leerer und weiträumiger als dieser waren und an denen uns niemand störte, aber hier passierte immer etwas, so wie überall auf der Welt, wo Menschen um Hilfe schreien, anderen lästig werden und sich streiten, und deshalb war es für uns dort am interessantesten. Es war uns durchaus bewusst, dass wir den Leuten auf die Nerven gingen, aber das war uns vollkommen egal. Nachdem wir herausgefunden hatten, wer die Dauerpatienten waren und welche Kindern gegenüber ungehalten zu sein pflegten, begannen wir zu ihnen besonders gemein zu sein. Sie wurden zu einem alltäglichen und unabdingbaren Teil unserer bösen kleinen Spielchen. Haarknoten-Oma lebte alleine, sie hatte niemanden, nicht einmal entfernte Verwandte, weshalb sie wohl täglich in die Ambulanz kam. Ihre einzige Freundin war die alte Milica, die Diabetes hatte, ein bisschen wirr im Kopf war und
Weitere Kostenlose Bücher