Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
Vom Netzwerk:
dem nächstbesten Gegenstand, den er zwischen die Hände bekam. Er beschimpfte uns als Dummköpfe, Idioten und Faulpelze. Die schwerste Mission unseres Lebens war es damals, diese Erniedrigungen bis zur Firmung zu erdulden. Niemand von uns glaubte ernsthaft, im Religionsunterricht durchzufallen, aber die Angst und die Furcht, die Juranić mit Gottes Hilfe um sich herum verbreitete, waren so groß, dass einige förmlich vor ihm zitterten.
    Manchmal führte er Schülergruppen zum Wallfahrtsort Marija Bistrica, dann hatte er auch mal gute Laune und zog eines der Mädchen mit geflochtenen Zöpfen auf seinen Schoß. Die Betroffene wurde auf der Stelle rot und sprach den ganzen Weg über kein Wort mehr, sah nur immerfort beschämt auf den Boden. Ich hatte den Eindruck, dass er die Leute aus Vukovar hasste, er behandelte uns zwar nicht irgendwie speziell, aber wir hatten uns inzwischen daran gewöhnt, von Feinden umgeben zu sein, und suchten immer nach Anzeichen für Gefahr. Er war zu uns im Grunde genauso mies wie zu den anderen, er stellte uns nur andere Fragen. »Was ist nur los mit euch aus Vukovar? Wisst ihr denn überhaupt, wie man einen Stall saubermacht?« Und dann beantwortete er die Frage selbst, ohne ernsthaft eine Antwort von uns erwartet zu haben. »Ihr seid euch zu fein, aber die kleinen Bauern sind Gott näher, weil auch Jesus im Stall geschlafen hat und nicht in einem Hotel wie ihr.« Und dann lachte er aus vollem Hals. Einmal fragte er Dragan, der in die achte Klasse ging, über die Heilige Dreifaltigkeit aus, und Dragan sagte, er hätte keinen Schimmer davon. Hochwürden hat ihm eine Fünf gegeben. Dann hat Dragan ihn gefragt: »Weißt du, wie die Scheiße vom Papst heißt?« Hochwürden ist rot geworden und hat nach dem Klassenbuch gegriffen, um es nach ihm zu werfen. Dragan ist von seinem Platz weggesprungen und hat dabei »Heiliger Stuhl! Heiliger Stuhl« geschrien. Hochwürden war außer sich, und Dragan ist aus dem Klassenraum abgehauen. Er landete bei unserer Pädagogin, aber es geschah ihm nichts Schlimmes. Hochwürden wurde daraufhin noch unangenehmer, warf aber wenigstens nicht mehr mit irgendwelchen Gegenständen nach uns.
    Als sich Weihnachten näherte, mussten wir im Religionsunterricht einen Aufsatz zum Thema »Mein Weihnachtsfest« schreiben. Die Namen der Besten wollte man dann auf einer Schulfeier offiziell verlesen. Ich glaubte ganz fest an Gott und mochte diesen Aufsatz mehr als alle anderen Schulaufgaben. In der Klasse hatte ich fast gar keine Konkurrenz, nur Željka, eine der Schweinchen, war ganz gut in Grammatik, und ihre Sätze waren voller schmückender Beiwörter. Ich bemühte mich, den besten Aufsatz zu schreiben, weil ich mir von ganzem Herzen wünschte, ihn auf der Schulfeier vortragen zu dürfen. Ich wusste, dass ich damit meine Mutter aus ihrem Zimmer locken könnte, vielleicht würde sie bei der Gelegenheit sogar etwas Dunkelblaues anziehen und kurz die Trauerkleidung ablegen.
    Hochwürden und die Kroatischlehrerin haben Željka und mich ausgesucht. Ich war außer mir vor Glück, denn ich sollte vor dem Auftritt auch noch mit meiner Freundin Ivana auf der Feier tanzen. Wir hatten eine Choreographie einstudiert, die ich mir zu dem Lied Paloma nera ausgedacht hatte. Den Inhalt des Aufsatzes verheimlichte ich Mama bis zur Aufführung, weil ich sie überraschen wollte. Ich hoffte, so würde sie noch mehr Freude daran haben. Sie wusste, dass ich ganz gut schreiben konnte, aber dieses Mal war ich mir ganz sicher, dass ich mich selbst übertroffen hatte. Ich ging also zum zweiten Mal auf die Bühne. Ich tauschte mein Matrosenshirt und die eng anliegenden Hosen durch eine weiße Bluse und einen karierten Plisseerock aus. Ich war ernst und wartete erhobenen Hauptes darauf, dass es leiser wurde und Stille eintrat, die in meiner Vorstellung dem Anlass entsprach. Ich fing an zu lesen. In jeden Satz legte ich das gesamte Volumen meiner Lunge hinein, sodass ich bald ganz flach atmete und keine Luft bekam. Ich hoffte, das würde niemandem auffallen, und um es zu überdecken, wurde ich lauter, und bald schrie ich förmlich jene Wörter und Sätze hinaus, die mir besonders wichtig vorkamen. Im groben kamen vor: Eine Tanne, die ihre Äste traurig nach unten hängen lässt, ein Vater, der nicht da ist, Mamas schwarze Kleidung, ein Bruder, der kein Geld für eine Cola hat und der nur einen Wunsch hegt – nach Hause zu gehen … Als ich fertig war, fingen die Leute an zu klatschen, manche

Weitere Kostenlose Bücher