Hotel Nirgendwo - Roman
überzeugt war, dass eine große amerikanische Stadt Ćićago hieß, aber sie lud uns ständig zu sich nach Hause ein, damit wir uns die frisch geworfenen Häschen anschauten. An einem Nachmittag im Frühjahr sind wir dann tatsächlich hingefahren.
Sie lebte in einem winzigen Häuschen auf dem Berg, zusammen mit unzähligen Brüdern und Schwestern, die alle klein und schmutzig waren. Die Familie hatte nur zwei Zimmer, in dem einen kochten und aßen sie, im anderen wurde geschlafen. Wir hatten lediglich ein Zimmer, beschlossen aber auf der Stelle, dass diese Leute schlimmer dran waren als wir. Die Hasen waren hinter dem Haus in einem Holzstall untergebracht. Als wir ihn betraten, schlug uns ein stechender Geruch entgegen, und wir brauchten ein paar Minuten, um uns an die Dunkelheit zu gewöhnen. Auf dem Boden lag ein Papierkarton, in dem sich eigenartige Fellknäuel befanden. »Das sind unsere Häschen«, sagte Veronika aufgeregt. »Ach, die sind ja so winzig. So süß!« Marina und ich konnten nicht an uns halten. Ich war begeistert und dachte, dass sich der Aufstieg den Berg hinauf trotz der Hitze gelohnt hatte. »Darf ich einen in die Hand nehmen?«, fragte ich. – »Mir erlaubt es Mama nicht, aber du kannst ihn nehmen, pass nur auf, dass er nicht runterfällt, ja?«, sagte sie. Ich fand sie alle wunderschön, überwiegend schliefen sie und wackelten im Traum mit ihren kleinen Schnauzen. Ich suchte mir einen weißen aus, und mir fiel mein Großvater ein. Einmal hatte ich gesehen, wie er einen Hasen an den Ohren packte und vor sich hertrug. Ich packte den Hasen also an den Ohren und hob ihn hoch. Irgendetwas knackte. »Nicht an den Ohren! Nicht an den Ohren!« Veronika fing an zu schreien. Ich ließ ihn schnell wieder auf den Boden fallen, seine kleine Schnauze bewegte sich aber nicht mehr. »Mama bringt mich um. Was hast du bloß getan!«, sagte sie hilflos. – »Nichts, ich habe ihn nicht einmal ganz hochgehoben«, fing ich an, mich zu verteidigen. – »Siehst du denn nicht, dass er verreckt ist, du Tölpel, du blöde Kuh, du!« Sie schrie mich an. »Aber unsere Shampoos sind gut genug für dich, du Stotterchen, ja?«, sagte Marina erbost, denn sie hatte ihr auch ein paar von ihren Shampoos gegeben. »Wir gehen«, sagte ich zu Marina und lief auf den Ausgang zu. Die Sonne blendete uns, und plötzlich stand Veronikas Vater in der Tür. »Na, was is’ los, ihr Stadtgören, sind die Hasen nicht hübsch?« Er öffnete den Mund, und wir sahen sein zahnloses Lächeln. Wir gaben keine Antwort und beeilten uns, zum Tor zu gelangen. Draußen angekommen, rannten wir so schnell es ging den Berg hinunter. Am nächsten Tag grüßte mich Veronika nicht in der Schule und ich sie auch nicht. Sie sprach mit niemandem ein Wort, strich nur immer wieder eine fettige Haarsträhne über ihr linkes Auge.
*
Freitags hatten wir in der letzten Stunde Religionsunterricht. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte jeder von uns liebend gerne mit einem ganzen Block Mathematik getauscht, aber es gab keine Möglichkeit, die Religionsstunde zu umgehen, und damals wussten wir noch nicht, dass man auch schwänzen konnte. In jener Zeit war es Pflicht, die Religion zu lieben, denn wer Kroatien liebte, liebte auch Gott, nur Aida durfte früher nach Hause gehen. Hochwürden Juranić kam noch vor Stundenbeginn in die Klasse, und sobald es geläutet hatte, fing er sofort an zu beten, und zwar nicht nur das Vaterunser, wie es die anderen Religionslehrer taten, sondern auch das Ave-Maria plus das ganze Glaubensbekenntnis und manchmal auch, wenn er besonders inspiriert war, eine Runde Rosenkranz. Er funkelte uns böse an und ging dabei in der Klasse umher, beugte sich vor, um uns zu hören, und wenn er jemanden beim Flüstern erwischte, sorgte er sofort dafür, dass alle auf der Stelle still wurden, und der von ihm ertappte Schüler musste dann allein mit dem Beten fortfahren. Falls dieser dazu nicht imstande war, bekam er eine Fünf oder einen Schlag auf den Hinterkopf. Im letzteren Fall herrschte absolute Stille, wenn der Schüler an seinen Platz zurückkehrte.
Hochwürden setzte sich an den Lehrertisch und fing an, aus seiner schwarzen Tasche einen Saft mit Strohhalm, zwei, drei Schokoladenriegel, Mars, Snickers oder Ähnliches herauszuholen. Wir sahen ihm beim Essen und Trinken zu, und die Mägen hingen uns bis zum Boden herunter. Wenn er mitbekam, dass jemand in den hinteren Reihen redete, zielte er mit Kreide auf ihn, oder er griff nach
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