Hotel Nirgendwo - Roman
klatschten laut, manche etwas verhaltener, die Frauen aus der Politikschule tupften sich mit einem Tuch die Tränen aus den Augenwinkeln. Željka sprang sofort nach oben, stellte sich auf der Bühne neben mich und fing an zu lesen. Ich dachte, dass die Leute bestimmt noch etwas länger klatschen wollten, sie konnten es aber nicht, da sie nun schon am Lesen war und man sonst ja nichts von ihrem Vortrag gehört hätte. Verwirrt, wie ich war, blieb ich einfach neben ihr stehen, mir war ein bisschen schwindelig und in meinem Kopf hallten ihre Wörter nach: Truthennen und kleine Mühlen, Mitternacht und frische Luft, die in der Nase kitzelt, der kleine Jesusknabe, Geschenke, Schlitten … Als sie fertig war, verbeugte sie sich so tief vor dem Publikum, dass ihr langes Haar fast den Boden berührte. Sie war wunderschön. Die Leute fingen an aufzustehen und klatschten wie wild vor Begeisterung. Das war das Ende der Schulfeier, und das Klatschen galt nun uns allen.
Aus den Lautsprechern ertönte Musik, und das Tanzen begann. Schüler und Eltern strömten in die Halle und auf die Bühne, und ich konnte meine Mutter nicht finden. Es war schwer, sich an all den glühenden Wangen der Großen und der Kleinen vorbeizuschieben und dabei die ganze Zeit zu befürchten, dass sie bereits gegangen war. Als ich es endlich zum Ausgang geschafft hatte, erblickte ich sie durch die Glastür, sie stand vor der Schule und rauchte. Sie trug einen langen schwarzen Mantel, Schnee fiel, ihre Schultern und Locken waren durchsetzt von weißen Flocken. Ich warf sie fast zu Boden als ich sie umarmte. »Wie war ich, wie war ich?«, wollte ich übermütig wissen. – »Wo ist deine Jacke«, fragte sie, »willst du etwa krank werden?« Sie umarmte mich dabei. – »Ach, die ist in der Umkleide! Na sag schon!« Ich sah, dass ihr Kinn zitterte, wie bei einem Kind, das kurz davor war zu weinen, und das tat mir in der Seele weh. Ich verstand, dass ich über etwas anderes hätte schreiben müssen und fühlte mich dumm, weil ich nicht daran gedacht hatte, dass sie mein Text traurig machen würde. Genauso war mir ein paar Wochen zuvor ein Missgeschick unterlaufen, als ich ihr eine Spielkarte mit einer Dame und einem König geschenkt hatte, ihre Augen hatten sich genauso wie jetzt mit Tränen gefüllt, weil sie bestimmt an Papa denken musste. Ich entschied mich, von nun an meine Schulaufsätze nur um der guten Noten willen zu schreiben und schob meinen Kopf zärtlich an ihren Hals. »Mama, bitte weine nicht«, sagte ich, »du weißt doch, dass Gott jene quält, die er am meisten liebt.« Sie stieß einen eigenartigen Seufzer aus, und während sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischte, sagte sie: »Ihr habt von Onkel Grgo eine ganze Tasche voller Süßigkeiten bekommen.« Ich war glücklich, das Tanzen war mir nicht mehr wichtig, Mama und ich gingen zusammen in unser warmes Zimmer zurück. Das war ein schöner Heiligabend. Wir lagen einander in den Armen und sahen uns Filme über Jesus an. Die Tasche mit den Süßigkeiten stand neben dem Bett. Das einzig Unangenehme war, dass ich mich übergeben musste und den ganzen nächsten Tag Bauchschmerzen hatte.
*
Als wir die Grenze überquerten, bekamen wir Lunchpakete. Damals trank ich zum ersten Mal Eistee. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gab, aber es schmeckte widerlich. Da ich Durst hatte, musste ich etwas trinken, um nicht zu dehydrieren und um ein bisschen zu mir zu kommen. Mein Bruder hatte mich um fünf Uhr morgens zum blauen ZET-Bus gebracht, und seitdem hatte ich mich schon zweimal übergeben, dabei hatte die richtige Reise noch nicht einmal begonnen. Vor lauter Anstrengung war mir zum Weinen zumute, aber ich presste fest meine Lippen zusammen, damit das nicht passierte, denn dann hätte ich mich noch mehr geschämt. Ich schmiegte mich an meinen Bruder, der die stinkende Tüte in der Hand hielt und schon zum dritten Mal wiederholte, dass es dumm war, Brotstücke in Milch zu krümeln und das Ganze auch noch Frühstück zu nennen. Es war das erste Mal, dass ich allein irgendwohin fuhr und dann auch noch ins Ausland, zu einer Familie, die ich nie zuvor gesehen hatte und deren Namen ich nicht kannte, die mich aber aus mir unbekannten Gründen ausgesucht hatte, um mich zwei Wochen lang zu beherbergen. Es schien eine vielversprechende Sache zu sein, man wollte mit mir ins Gardaland fahren, Ausflüge machen, die gemeinsam verbrachte Zeit sollte mich das ganze Elend um mich herum vergessen lassen
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