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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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jedes Mal, wenn sie an uns vorbeiging, stehen blieb, die Hände in die Hüften stemmte und zu singen anfing: »Da geht das kleine Mädchen, man sieht genau ihr Möschen, Opa sagt, ach, deck sie zu, Oma sagt, ach, greif nur zu!« Dann lachte sie laut und ging weg. Sie hatte eine richtige Meise, aber sie hasste uns nicht. Eines ihrer Beine war übersät mit dicken Knoten, das andere war normal. Sie hinkte leicht beim Gehen, aber wenn sie einen von uns erwischen wollte, holte sie ihn in null Komma nichts ein. Wenn sie ihn dann zu fassen kriegte, presste sie ihn zwischen ihre riesigen Brüste, die ihr bis zur Taille hingen und zwischen denen ein Gestank herrschte, dass einem ganz übel wurde. Wir plazierten unser Seil direkt vor ihren Füßen oder befestigten es am Stuhl genau neben ihrem Platz und fingen an, wie Elefanten zu springen, wild und so laut wir nur konnten. Nach ein paar Minuten stand Haarknoten-Oma immer auf und versuchte, uns unser Seil wegzuziehen. »Marsch, weg hier! Ihr elende Saubande!«, stieß sie immer wieder nervös hervor. Einmal gelang es ihr, die kleine Ivana am Schwanz zu packen, und zwar so fest, dass sie ihr dabei ein Büschel Haare ausriss. Danach haben wir beschlossen, uns an ihr zu rächen. Wir verfolgten sie und fanden heraus, in welchem Zimmer sie lebte. Zur Zimmernummer musste man nur Hundert dazuzählen und schon hatten wir auch ihre Telefonnummer samt Durchwahl. Wir hofften, dass sie auch einen Anschluss hatte. Wir gingen in Marinas Zimmer, weil sie allein mit ihrer Schwester war, und wählten die Nummer. »Hallo!« Am anderen Ende der Leitung hörten wir eine belegte Stimme. Wir schwiegen. »Hallo! Wer ist denn da?«, fragte die Stimme. Ich nahm Marina den Hörer aus der Hand und pustete hinein, das hatte ich in einem Film gesehen. »Verfickte Scheiße, verflucht sei eure Mutter, ihr elenden kleinen Bestien! Marsch, ihr verfickten Köter!«, donnerte es aus dem Hörer, sodass auch die, die etwas weiter weg standen, es hören konnten. Wir wurden nachdenklich. Eine Weile sagte niemand etwas, dann legte Marina auf, nahm den Hörer wieder in die Hand und wählte die Nummer ein weiteres Mal. Wir saßen still nebeneinander und sahen uns an. »Hallo!« Wieder hörten wir die Stimme der Alten. Jelena blies in den Hörer. »Ihr verdammtes hirnloses Vieh! Gebe Gott, dass die Würmer eure Gedärme zerfressen, dass euch Krebse auf der Straße angreifen, dass eure Mütter euch auf der Stelle vergiften! Marsch, ihr Bandenschweine, ihr elenden …« Dieses Mal legte ich den Hörer auf. Wir schwiegen alle. Wir waren überwältigt von den Beschimpfungen, die wir gehört hatten, und wollten uns weitere Flüche von Haarknoten-Oma ersparen, aber gleichzeitig war das Ganze unglaublich aufregend. An diesem Nachmittag riefen wir sie nicht mehr an, gaben aber ihre Nummer Zoki, Ivan und den anderen Jungs. Ihnen gefiel das Ganze noch besser als uns, sie fanden das total lustig und riefen sie ständig an, manchmal auch nachts. Danach grüßten wir Haarknoten-Oma immer freundlich und lächelten sie sogar an, wenn wir sie trafen. Wir spielten nicht mehr Springseil vor ihren Augen. Ganz selten, wenn uns wirklich nichts anderes einfiel und wir nicht wussten, wie wir unsere Langeweile überwinden konnten, riefen wir sie wieder an, legten den nach unten gedrehten Hörer ab, warteten eine, zwei Minuten und legten dann auf.
    Nach einigen Jahren bekam Haarknoten-Oma Krebs und starb so schnell, dass sie nicht einmal mehr nach Hause gehen konnte. Man begrub sie am kleinen Berg hinter unserem Flüchtlingsheim, und es gab keine Angehörigen, die sie später an ihren alten Wohnort hätten versetzen können.
     
    *
     
    In die Dorfgrundschule schrieben sich an die hundert Kinder ein. Ein Großteil kam aus der ehemaligen Politikschule, den kleineren Teil machten die sogenannten Bergleute aus, das waren jene Menschen, die aus Vukovar kamen und im Hotel am Berg lebten, weshalb wir sie so nannten. Man hatte sie etwas früher als uns und in einem richtigen Hotel untergebracht. Ein Teil dieses Hotelgebäudes lag unter der Erde und war früher bei Touristen und Konferenzteilnehmern sehr beliebt. Wir vereinten uns im Krieg gegen die Schweinchen, so nannten wir die Leute aus Zagorje; der Krieg wurde gleich eröffnet, er war brutal und dauerte lange an. Selten kam es einmal zwischen den verfeindeten Lagern zu Aussöhnungen, die eine oder andere echte Freundschaft blieb aber dennoch nicht aus. Wir waren alle mehr oder weniger im

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