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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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und meine Gastfamilie daran erinnern, wie gut sie es in Italien hatten. Ich war sehr aufgeregt, Italienisch konnte ich nicht, nur ein einziges Wort, und das war, der Natur der Reise gemäß, natürlich das Wort grazie . Ich hatte es im Bus gelernt und gleich gewusst, dass ich es häufig brauchen würde. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto größer wurde die Unruhe im Bus. Jelena und ich saßen zusammen und fuchtelten mit den Kärtchen, auf denen die Namen unserer Gastfamilien standen. Ihre Gasteltern hießen Signore Gabrielle und Signora Nicola, wir nahmen an, dass es sich um ein Missverständnis handelte, denn wir konnten nicht glauben, dass eine Frau Nicola heißen könnte. In meiner Gastfamilie gab es drei Kinder, in Jelenas nur eines, deshalb nahmen wir an, dass ich mehr Spielzeug haben würde. Auch die anderen Kinder im Bus schliefen nicht mehr. Manche polterten lauthals herum und standen auf, die meisten von ihnen kannte ich gar nicht, weil sie aus anderen Sammelunterkünften kamen. Eines der Mädchen blieb ganz still, sie kauerte sich hin und redete mit niemandem, ich hatte gehört, dass man ihren Vater und ihre Mutter umgebracht hatte und ihr nur die Großmutter geblieben war. Sie hatte nicht einmal einen Koffer wie wir anderen, lediglich eine Plastiktüte, in der sechs Unterhosen waren. Das hatte uns Latka erzählt, die sie aus der Blauen Lagune kannte. Das Mädchen hieß Ana.
    Die Vorstadt von Mantua, durch die wir fuhren und in deren Nähe sich unser Städtchen befand, enttäuschte uns dann alle ein bisschen. Da es sich bei unseren Gastfamilien um wohlhabende Leute handelte, hatten wir Villen und Swimmingpools wie in der Fernsehserie Beverly Hills erwartet, doch das, was sich vor unseren Augen erstreckte, sah ganz anders aus. Kleine Häuschen reihten sich aneinander, orangefarben und von eigenartiger Form, dann sah man Gebäude, die weder Hochhäuser noch irgendetwas dazwischen waren, und in der Ferne bemerkten wir hohe Schornsteine. Endlich fuhren wir in unser Städtchen ein, ließen das Stadttor hinter uns und hielten am Rathaus, wo unsere Familien auf uns warteten.
    Es handelte sich um eine lärmende Gruppe von Erwachsenen und Kindern, die unserem Autobus zuwinkten. Manche von ihnen hoben große Kartonschilder in die Höhe, auf denen unsere Namen standen; Jelena, Marko, Saša und andere. Mich ordneten sie schließlich einem älteren Ehepaar mit einem Sohn zu. Ich lächelte sie die ganze Zeit an, weil ich kein Wort von dem verstand, was sie sagten. Als ich mich fragte, wo wohl ihre anderen Kinder waren, tauchte plötzlich ein winziges Mädchen mit ganz vielen Kräusellocken auf. Sie zog an dem Kärtchen, das um meinen Hals hing, und schrie: »Ecco la qui, ecco la qui!« Sie schnappte sich meine Hand und fing an, mich auf die andere Seite zu zerren. Mir war nicht klar, was genau vor sich ging, aber es schien mir, als würden sich zwei Familien um mich streiten. Die Situation wurde mir etwas unangenehm, dann kam endlich die Übersetzerin und erklärte dem älteren Ehepaar, dass ihr Mädchen nicht aus Zagreb gekommen sei, weil es zwei Tage vorher erkrankt war.
    Es sah so aus, als sei das Mädchen mit der krausen Mähne sehr glücklich, dass ich zu ihnen kam, und auch, dass sie es war, die mich gefunden hatte. Sie hielt den ganzen Weg bis zu ihrem Haus meine Hand und sprang neben mir her. Hin und wieder drehten sich alle nach mir um, sagten irgendetwas auf Italienisch und lächelten. Ich verstand nichts. Dann wiederholten sie einfach das Gesagte etwas lauter und deutlicher, so als würde ich nicht gut hören, und ich lächelte zurück und wiederholte, auch etwas lauter: »I don’t understand.« Ich verstand nur, dass sie noch einen Sohn hatten, der gerade nicht da war, aber Englisch konnte. Das erste, was ich sah, als wir ihr Haus betraten, war eine große Marmortreppe, es hingen viele Bilder an den Wänden, und da dachte ich, dass es sich um sehr reiche Leute handeln musste. Sie brachten mich in ein Zimmer im ersten Stock und zeigten mir, wo ich schlafen würde, es war das sehr geräumige Zimmer ihrer Töchter. Sie öffneten den gänzlich leeren Kleiderschrank, in den ich meine Sachen ablegen konnte, die aber alle in ein Fach passten. Ihr Sohn war noch nicht zu Hause, das erklärten sie mir ausgiebig mit Händen und Füßen. Das kleine Mädchen schlich die ganze Zeit um mich herum, und als ich ins Badezimmer ging, wartete es vor der Tür. Kaum war ich draußen, zeigte sie nach unten, ballte eine Faust,

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