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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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ich konnte mir kurzzeitig einreden, etwas Besseres als das Bauernmädchen zu sein. Ich beschloss, bis zu meiner Hochzeit niemanden zu küssen. Das Küssen war und blieb in meiner Vorstellung ekelhaft, und man wusste doch außerdem nie, ob man wegen des Küssens oder um seiner selbst willen geliebt wurde.
    Am nächsten Tag erhielten wir einen Anruf. Wir malten uns aus, wir würden nun eine neue Wohnung bekommen und ich hätte dann ein ganzes Zimmer für mich allein und würde Damir für immer vergessen.
    Mama fuhr mit dem Bus um sieben Uhr morgens los. Sie wusste nicht, wann sie zurück sein würde, bat uns aber, erst einmal nicht zu packen, für den Fall, dass es, entgegen unserer Annahme, doch nicht gleich losging. Ich saß auf der Treppe vor dem Hotel und wartete auf den Bus um drei Uhr nachmittags, dann auf den Bus um sechs Uhr abends. Mama kam erst mit dem Bus um halb zehn, wir waren inzwischen im Zimmer, aber noch nicht im Bett, weil wir eine so wichtige Nachricht nicht im Pyjama empfangen wollten. Kaum hatte sie die Tür aufgemacht, bestürmten wir sie mit Fragen. »Was ist passiert? Was haben sie gesagt? Wann ziehen wir um?« – »Wir ziehen nicht um«, sagte sie, »wir bleiben hier.« Mein Bruder und ich sahen uns sprachlos an. Statt sich hinzusetzen, fiel Mama der Länge nach entmutigt aufs Bett. »Sie haben keine freien Wohnungseinheiten in Zagreb für uns, nicht einmal in der Umgebung. Ich habe ihnen gesagt, dass wir bereit wären, eine kleinere Wohnung zu nehmen, aber sie sagen, es sei völlig hoffnungslos.« – »Und warum haben sie dich dann überhaupt angerufen?«, fragte mein Bruder mit zusammengebissenen Zähnen. Mama schwieg eine Weile und sagte dann in einem Atemzug: »Sie haben uns eine Wohnung auf der Insel Vis angeboten, ich habe das abgelehnt, was sollen wir dort machen! Da gibt’s nicht mal eine Schule, nichts! Und wie soll ich dort etwas über Papa erfahren, wenn er irgendwann zurückkommt? Sollen sie doch selbst dort leben, wenn sie die Insel so gut finden. Ich habe sie angefleht und gesagt, dass uns ein Dach über dem Kopf reichen würde, dass wir hier in der Nähe bleiben müssen, ich war auch beim Präsidenten, ich habe den ganzen Tag auf ihn gewartet, es hieß erst, er sei gar nicht da, und dann habe ich ihn aber zufällig getroffen und gebeten, mich doch wenigstens mal anzuhören, nur das, mich anhören, nichts weiter. ›Warum haben Sie es so eilig?‹, hat er gefragt. Das hat er mich gefragt. ›Sie kommen schon früh genug zurück nach Vukovar‹, hat er gesagt, ›wir führen diesen ganzen Krieg nicht umsonst‹«. Dann stand Mama plötzlich auf und ging ins Bad. Mein Bruder schnappte nach seiner Jacke, rannte aus dem Zimmer und schlug wütend die Tür hinter sich zu. Ich blieb allein zurück.
    Am schlimmsten ist es das erste Mal, dann gewöhnt man sich an die Ablehnungen. Und man gibt nicht auf.
     
    *
     
    Zagreb, 12. Juni 1995
     
    Sehr geehrter und hochgeschätzter Herr Präsident,
     
    gleich zu Beginn möchte ich Ihnen sagen, dass mich tiefste Trauer und vielleicht auch Enttäuschung dazu getrieben haben, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Glauben Sie mir, ich habe einfach nicht mehr gewusst, an wen ich mich in diesem Land eigentlich noch wenden sollte, und da ich an Ihre Güte glaube, wende ich mich nun an Sie.
    Ich bitte Sie, sich ein bisschen Zeit für mich zu nehmen und diesen Brief zu Ende zu lesen, denn es geht mir nicht nur um mich. Bitte verzeihen Sie die eine oder andere ungeschickte Formulierung, es ist nämlich mein erster Brief dieser Art und es ist einer mit einem ganz speziellem Anliegen.
    Ich bin ursprünglich aus Vukovar und der Sohn eines verschollenen Kämpfers für unser Vaterland. Im Augenblick befinde ich mich in der Sammelunterkunft Hotel Zagorje (ehemalige Politik-Kaderschule) in Kumrovec, zusammen mit meiner kleinen Schwester und unserer Mutter. Ich möchte Ihnen über meinen tiefen Schmerz berichten, über den ich noch nie mit jemandem gesprochen habe, und ich möchte Sie um Hilfe bitten, weil ich fest davon überzeugt bin, dass Sie mir helfen können. Was mich so schmerzt, ist zunächst einmal die Profitgier der Leute, die den Krieg benutzen, um sich in unserem gebeutelten Land persönlich zu bereichern. Viele, die bis vor kurzem sauarm waren (ich bitte um Verzeihung für diese Formulierung), können jetzt den Hals nicht voll kriegen, erfreuen sich eines unermesslichen Reichtums, und zwar auf Kosten von meist rechtschaffenen und schwer arbeitenden

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