Hotel Nirgendwo - Roman
Menschen. Aber so ist das nun einmal. Es gibt ja die Redensart bei uns, dass die einen den Krieg und die anderen einen Bruder bekommen, jeder wie er es verdient. Aber es gibt noch etwas anderes, etwas, was mir noch mehr zusetzt, mich noch mehr schmerzt als das eben Genannte. Ich habe nämlich den Eindruck, dass ein großer Teil der kroatischen Regierung kein bisschen darüber bekümmert ist. Es interessiert Sie offenbar gar nicht, dass unser Status juristisch nicht definiert ist und dass wir deshalb gezwungen sind, uns mit bestimmten Umständen zu arrangieren und auf bestimmte Dinge zu verzichten. Dabei brauchen wir dringend den Schutz der Politik. Denn wir haben, am meisten gelitten. Ich erlaube mir, auch im Namen anderer junger Menschen zu sprechen. Wir mussten bereits im Alter von fünfzehn erwachsen werden, manche von uns noch früher. Wir mussten Sie bitten, uns beim Überleben zu helfen, damit wir ein menschenwürdiges Leben führen konnten, wenn wir schon nicht ein Leben führen durften, das unserem Alter entsprach, da uns ja die besten Jahre unserer Kindheit geraubt worden waren. Wissen Sie eigentlich, wie schwer es war, bis spätnachts »Bild auf Bild« zu schauen (um etwas über unsere Väter zu erfahren)? Und dann morgens aufzustehen und übermüdet in die Schule zu gehen? Und nach der Schule in ein zehn Quadratmeter großes Zimmer zurückzukehren und dort eine Mutter vorzufinden, deren Augen allen Glanz und jede Hoffnung verloren hatten, weil unser Vater verschollen war? Und dann eine lauwarme oder kalte Mahlzeit aufgetischt zu bekommen, die diesen Namen gar nicht verdient, weil sie so klein war, dass man sie auf dem Teller praktisch suchen musste? Das Ganze war unerträglich, vor allem, weil wir mit ansehen mussten, wie sehr unsere arme Mutter darunter litt, dass sie uns das Essen nicht einmal aufwärmen konnte, weil wir keinen Herd hatten. Nach dem Mittagessen mussten die Hausaufgaben gemacht werden, dann wurde zu Abend gegessen, danach wieder die Vermisstensendungen geguckt, und immer so weiter, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Es gab auch Monate, in denen wir auf dem Boden schlafen mussten, damals habe ich mir bestimmt die chronische Bronchitis zugezogen. Ich glaube, dass ein Kind, das unter solchen Umständen keinerlei Lastern und Versuchungen zum Opfer gefallen ist, ein kroatischer Held ist, genauso wie ein Vater auf dem Kriegsfeld. Die meisten von uns hatten vor dem Krieg keine Ahnung, was Armut heißt, und jetzt, da wir alles verloren haben, mussten wir den Unterschied zwischen Besitzen und Nichtbesitzen an der eigenen Haut erfahren. In dieser ganzen Zeit haben wir immer nur an Vater und an seine Rückkehr gedacht, während die anderen schlauer waren und schlaue Gesetze kannten und Anträge stellten, Wohnungen zugeteilt und sogar Gedenkbücher geschenkt bekamen. Ich will an all das einfach nicht mehr denken. Wir möchten, dass Sie endlich begreifen, welche Unterstützung unser Land gerade aus dem Volk, von Menschen wie uns erfährt, von den Familien, die zu den Verteidigern unseres Landes gehören. In dieser ganzen Zeit haben wir in Liebe ausgeharrt, wir haben beharrlich gewartet, und jetzt ist alles sehr, sehr schwer für uns geworden. Wir fühlen uns in nahezu allen gesellschaftlichen Zusammenhängen an den Rand gedrängt, man hat uns völlig verstoßen und vergessen. Ich habe mich gefragt, was wohl mein Vater sagen würde, wenn er um all das hier wüsste! Was er wohl zu der Antwort sagen würde, die ich erhielt, als ich um Hilfe bat. »Ja, warum sind Sie denn in den Krieg gezogen!?« Dabei ist die Frage durchaus berechtigt, ich frage mich das tatsächlich auch. Dennoch würde ich morgen aus dem gleichen Grund wie mein Vater ausziehen und für mein Land kämpfen. Er hatte die Wahl, er war Handelsreferent und in Zagreb hatten wir schon eine Unterkunft gefunden, aber er hat sich fürs Bleiben und für die Tugend entschieden. »Jetzt oder nie«, hat er gesagt und sein Leben für sein Land aufs Spiel gesetzt. Ich möchte Sie auf eine Unart aufmerksam machen, die den Familienmitgliedern der verschollenen Vukovar-Verteidiger nach dem Fall der Stadt in aller Regelmäßigkeit widerfahren ist: Man entfernte sie im Verteidigungsministerium von der Liste der Sozialhilfeempfänger. Acht Monate standen wir da ohne einen einzigen Dinar. Wir hatten nur das Taschengeld für Flüchtlinge, das heute nicht einmal hundert Kuna pro Person beträgt, damals aber noch niedriger angesetzt war. Nun ja, aber trotzdem,
Weitere Kostenlose Bücher