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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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bisschen an den Computer setzen?« – »Ja, gut«, sagte ich dann. – »Mach nur nichts kaputt«, schrie sie mir hinterher. – »Aber nein«, sagte ich und befand mich schon in der Dunkelheit des anderen Zimmers.
    In der Schule hatte ich schon Informatik, Patience war mein Lieblingsspiel, und wenn die Spielkarten sich zum Zeichen des Sieges mehrmals auf dem Bildschirm ausgefächert hatten, drehte ich mich zu den Kartons um und begann sie strategisch zu inspizieren. Ich ging alphabetisch vor und versuchte herauszufinden, wie viele Leute ich kannte und ob Verwandte oder Bekannte aus meinem Wohnhaus unter den Archivierten waren. Manchmal suchte ich nur nach Frauen oder nach Jungen, die im gleichen Jahr wie mein Bruder Geburtstag hatten. Kinder kamen selten in den Listen vor, aber sie kamen vor. Das jüngste war im Mai 1991 zur Welt gekommen und im November gestorben. Der Älteste war Jahrgang 1898, man hatte ihn am gleichen Tag getötet wie den Jüngsten. Meine Angehörigen waren ziemlich weit vorne aufgeführt:
     
    B.  A. , geboren 1953, Svib, Imotski, wurde das letzte Mal am 18. 11. 1991 vor dem Krankenhaus in Vukovar gesehen, seitdem fehlt jede Spur von ihm. Er hatte einen Bruder, I. , war verheiratet mit A. , die zwei Söhne zur Welt brachte, J. , geboren 1975, und I. , geboren 1982. B.M. , 1927 in Svib, Imotski, geboren, getötet in Prljevo im Oktober 1991.
     
    So stand es dort geschrieben. Mehr wusste man nicht über meinen Vater, und über mich wusste man allem Anschein nach nichts, denn ich wurde als der zweite Sohn geführt. Details wurden keine genannt, das wunderte mich, denn schließlich war jeder auf eine andere Art umgekommen. Meinem Großvater wurde zum Beispiel die Kehle durchgeschnitten, das kleine Baby war an einer Infektion im Krankenhaus gestorben, so wie ganz viele andere Kinder, weil es keinen Strom mehr gab, kein Wasser, keine Medikamente. Manche Menschen wurden von einer Granate getroffen und starben, aber es gab sicher auch Leute, die einfach eines natürlichen Todes gestorben waren. »Gehen wir?« Mama streckte den Kopf herein und sagte, wir müssten bis drei in unserem Viertel sein. »Hast du die ganzen Papiere durcheinandergebracht? Bitte mach das nicht, es darf nichts wegkommen hier!« Aber alles ging doch so leicht verloren, dachte ich. Welche Bedeutung hatten überhaupt die in den Kartons abgelegten Dokumente, wenn es doch so viele Menschen gab, über deren Verbleib man nichts wusste.
     
    Einmal organisierte Tante Zdenka ein Treffen mit allen Botschaftern in Zagreb, die sich dazu bereit erklärt hatten, und ich nahm daran teil. Man sprach bei dieser Sitzung über die Arbeit des Apel-Zentrums und wie man die Suche nach Vermissten verbessern könnte. In der Raummitte saßen an einem ovalen Tisch an die fünfzehn Botschafter und ein paar Frauen, die hier jeden Tag arbeiteten. Ich saß auf einem Stuhl hinter ihnen an die Wand gelehnt und wartete auf meinen großen Moment, wobei ich mich wunderte, dass alle Männer fast identische glänzende Schuhe trugen. – Gegen Ende des Treffens sagte Tante Zdenka: »In Anbetracht der Tatsache, dass wir Sie um etwas bitten, möchten wir Ihnen im Gegenzug auch etwas geben.« – Ich stand auf und näherte mich von hinten einem Mann, der mir am nächsten saß. Der Arme wusste nicht, was ihm plötzlich geschah, stand auf und wollte um sich schauen. Ich legte jedoch meine Hand auf seine Schulter und sagte: »Sitzen bleiben!« Ich war mir meiner Rolle ziemlich sicher, und noch bevor er etwas sagen konnte, hing ein Kettchen mit einem vierblättrigen Kleeblatt um seinen Hals. Ich lächelte ihn an und ging zum nächsten. So machte ich es mit allen. Am Ende klatschten sie und gingen mit ihren neuen Goldkettchen glücklich nach Hause. Mit mir waren alle zufrieden.
     
    Aus diesem dunklen und übervollen Raum auf die Zagreber Einkaufsstraße Ilica hinauszutreten hatte etwas Befreiendes. Die Stadt war schön und empfindungslos. Sie brauchte uns nicht. Bewohner hatte sie mehr als genug. Ein Einwohner von Zagreb zu sein, das hatte etwas mit Prestige zu tun. Selten setzten wir uns in der Straßenbahn hin, vor allem am Anfang, wir hielten uns auch nie länger in den städtischen Parkanlagen auf, um dort das zu tun, was Menschen auf der ganzen Welt üblicherweise in Parks tun. Wir gingen nie ins Kino, nie ins Theater, wir irrten mehr oder weniger orientierungslos durch unbekannte Straßen und entdeckten die schönen Orte, wenn überhaupt, immer nur zufällig.

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