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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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dass ich nicht die einzige bin, die auf eine Lösung ihrer Wohnsituation wartet, bitte seien Sie vorab versichert, dass wir seit 1991 geduldig auf eine Zuteilung warten, und jetzt bin ich wirklich in einer sehr schwierigen Lage. Man hat mich in Kumrovec mit meinen beiden Kindern in einem kleinen Zimmerchen untergebracht. Mein Sohn geht in Zagreb zur Schule, meine Tochter hat gerade die achte Klasse beendet und alle acht Schuljahre mit »sehr gut« abgeschlossen. Sie würde gerne in Zagreb aufs Gymnasium gehen, denn hier in Kumrovec gibt es keine weiterführenden Schulen. Ich bin die Ehefrau eines verschollenen Vaterlandsverteidigers aus Vukovar, außerdem ist mein Schwiegervater als Mitglied der Kroatischen Streitkräfte in Vukovar ums Leben gekommen. Glauben Sie mir, es ist manchmal viel schwerer für eine Familie, das spurlose Verschwinden eines nahen Menschen hinzunehmen als seinen Tod, denn manche Dinge kann man einfach nicht akzeptieren – die Ungewissheit macht alles unerträglich. Liebe Frau P., ich bitte Sie bei Gott, bitte helfen Sie meinen Kindern, damit wenigstens sie ein einigermaßen würdevolles Leben führen können. Wenn ihr Vater noch bei ihnen wäre, würden sie nicht so leiden, wie sie es jetzt tun.
    Vielen Dank für Ihre Mühe im voraus,
     
    A. B.
    Verteidigungsministerium, p.p, 21 Kumrovec
     
    *
     
    »Los, raus mit dir aus dem Bad, wann kommst du endlich raus?« Mein Bruder donnerte an die Tür. Ich habe keine Eile, sagte ich mir im stillen, ein bisschen Zeit brauche ich noch. Ich legte die Briefe in die blauen Umschläge zurück und fragte mich, warum Mama sie schrieb. Das war immer Sache meines Bruders gewesen, aber er war in letzter Zeit völlig verrückt geworden und hatte nichts mehr gemacht. Vielleicht weil er nun an der Fakultät eingeschrieben war und das Gefühl hatte, keiner sei so klug wie er. Früher war nur ich die Dumme, jetzt ging er auch auf Mama los. Als würde sie sich nicht ohnehin elend und traurig fühlen, erniedrigte er sie durch seine Beleidigungen zusätzlich. »Warum besuchst du denn nicht mal einen Informatikkurs? Warum machst du keinen Führerschein? Es gibt Frauen, die haben nur die Grundschule besucht und sind klüger als du. Alles was du kannst, ist in diesem Zimmer rumzusitzen, du wirst immer eigenbrötlerischer und weißt gar nicht mehr, wie man mit Menschen redet!«
    Das waren die üblichen Vorwürfe. Sie rückte jedes Mal ein Stückchen von ihm weg und bat ihn, sie in Ruhe zu lassen. Ich konnte es kaum erwarten, dass er endlich ins Studentenwohnheim zog und aufhörte, Mama zu demütigen. Aber ins Wohnheim musste auch ich.
    Alle, die eine weiterführende Schule oder eine Fakultät besuchten, kamen ins Wohnheim. Mein Bruder ging ins Studenten- und ich ins Schülerinnenwohnheim.
    Ich verstaute die Briefumschläge in meinen Hosentaschen und wollte sie später, wenn niemand in der Nähe war, in die schwarze Aktentasche zurücklegen, in der sich alle wichtigen Dokumente befanden. Mama fotokopierte immer jeden Brief, der irgendetwas mit der Wohnung oder mit Papa zu tun hatte, doch solche wurden mit der Zeit immer seltener. Eines Tages, hieß es, würden wir diese Nachweise vielleicht brauchen. Wer sie verlangen könnte und warum, war mir nicht klar. Als ich aus dem Badezimmer herauskam, verpasste mein Bruder mir mit dem Ellbogen einen Schlag in die Rippen. »Ich kann es kaum erwarten, dass du endlich abhaust«, stieß ich wütend hervor und setzte mich aufs Bett. Wie so viele Male zuvor, rettete mein Walkman mir das Leben, es war ein Geschenk von den Italienern. Bevor mein Bruder das Zimmer verließ, hörte ich durch die Kopfhörer hindurch, dass er irgendetwas Verächtliches über Tschetnik-Musik sagte. Ohne meine Kopfhörer abzunehmen und noch zur Wand gedreht, sagte ich: »Ich kann Musik und Politik voneinander unterscheiden, ich bin nicht so primitiv.« Plötzlich stand er vor mir und packte meine Hände. Sein Gesicht berührte meines fast. »Nichts, aber auch gar nichts verstehst du!«, schrie er.
    So endete auch dieses Gespräch.
     
    *
     
    Pyjama, 2 Stück
    Handtuch, 2 Stück
    Seifenpackung, 1 Stück
    Zahnbürste, 1 Stück
    Plastikbecher, 1 Stück
    Hausschuhe, 1 Paar
     
    Das stand auf einem Zettel, den man von innen auf die Eingangsglastür des Schülerinnenwohnheims geklebt hatte. »Kannst du dir das merken, oder sollen wir es für dich abschreiben?«, fragte Mama und kramte in den Untiefen ihrer Handtasche nach einem Kugelschreiber. »Sicher kann ich

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