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Hotel Nirgendwo - Roman

Hotel Nirgendwo - Roman

Titel: Hotel Nirgendwo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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mich an meine Kindheit erinnert. Mein Bruder sagt, ich würde immer dicker werden. Bald verschwindet er mit dem Autoschlüssel, er sagt uns nicht, wohin, sondern geht einfach. In unseren Zimmern gibt es keine hohen Tische, nur Arbeitstische, die an die Wand gelehnt sind, und einen kleinen Kaffeetisch in der Mitte des Zimmers.
    Meine und Željkas Mama sitzen auf den Betten und essen von diesen niedrigen Tischen. »Wie soll man da keine Magenschmerzen bekommen«, sagt Željkas Mama, »wenn man gezwungen ist, so zu essen?« In ihren Augen sehe ich das Bild eines hohen Eichenesstisches mit vier Stühlen, die in der neuen Wohnung stehen. Ich sitze auf dem Boden, weil auf dem Bett kein Platz ist, über mir sitzt Željka und streichelt zärtlich meinen Kopf, der zwischen ihren Knien ruht. Das hatte sie früher manchmal getan, als ich noch klein war, ich schloss dann immer die Augen und genoss ihre Berührungen, sie war schön und sanft, sie war die Schwester, die ich gebraucht hätte. »Ach, ihr kommt jetzt auch an die Reihe, ganz sicher«, wiederholen die beiden, fast entschuldigend. – »Bis dahin musst du aber bei mir übernachten«, sagt Željka und flicht mir einen Zopf. Sie steht auf und geht sich schminken, sie trifft sich neuerdings mit einem Jungen. Ich mag sie weniger als früher, weil ich spüre, dass wir nicht mehr die Gleichen sind, dass wir es nie wieder sein würden, weil sie diejenige war, die Glück gehabt hatte, und dieses Glück uns trennte. Unsere Mütter rauchen eine Zigarette nach der anderen, schauen sich mit Tränen in den Augen an und ich gehe in mein Zimmer.
    Vielleicht ruft mich Igor an, denke ich, er hat seit ein paar Tagen nichts von sich hören lassen. Als ich das Zimmer betrete, sehe ich, dass mein Bruder da ist und sich gerade fürs Ausgehen fertigmacht. Ich frage ihn, wohin er geht, er knurrt mich nur an und sagt: »Kannst Mama ausrichten, dass ich heute im Auto schlafe.« – Die Nacht zuvor war er gar nicht nach Hause gekommen. Mama war vor lauter Sorge fast umgekommen, und da sie wusste, dass er eine Freundin im Hotel am Berg hatte, schickte sie mich am Morgen hin, um ihn abzuholen. Mir war das sehr unangenehm, ihm aber noch mehr, und das freute mich ein wenig. Seine Freundin war jetzt sein Ein und Alles, und uns erzählte er nichts mehr.
    Auch für mich war Igor alles, aber wir konnten uns nicht so oft sehen, weil er in einem anderen Ort lebte. Wir waren einmal Kaffee trinken und einmal im Kino. Zum ersten Mal nach so vielen Jahren war ich mit jemandem im Kino. Beim Kaffee alberten wir viel herum, er erzählte mir von seiner Band, sie spielten zusammen in seiner Garage, die sie mit Eierschachteln tapeziert hatten. Dann fing ich an, über Musik zu reden, und er unterbrach mich und küsste mich, und dann taten wir nichts anderes, als uns ununterbrochen zu küssen. Im Kino sahen wir einen Film, in dem es um einen Tierdetektiv ging, denn das war der einzige Film, der gezeigt wurde, aber wir küssten und streichelten uns ohnehin die ganze Zeit. Auf dem Rückweg im Autobus besetzten wir die hintersten Plätze, und er legte seinen Kopf in meinen Schoß. Ich streichelte sein Haar und konnte es nicht fassen, wie schön er war. Seine Hand lag unter seinem Kopf, und er ließ sie zwischen meine Beine gleiten. Ich wollte so schnell wie möglich zu Hause ankommen, mir war heiß und ich schämte mich. Außerdem war mein Bein eingeschlafen und tat weh.
    Er brachte mich bis zum Hotel, wollte aber auch diesmal nicht reinkommen und ging nicht einmal bis zur Rezeption mit. »Hast du denn ein eigenes Zimmer, oder wohnst du da mit deinen Alten?« – »Ich bin nur mit meiner Alten hier«, sagte ich. Zum ersten Mal hatte ich Mama so genannt, obwohl ich mich daran erinnern konnte, dass ich, als wir noch in Vukovar wohnten, geschworen hatte, meine Eltern niemals so zu nennen. Außerdem hatte ich mir damals vorgenommen, niemals zu rauchen und Hosen mit Löchern zu tragen. »Mein Alter ist verschwunden«, sagte ich, und es hörte sich mal wieder so an, als würde nicht ich, sondern jemand anders sprechen, während ich daneben stand. Ich hatte Igor bisher nichts darüber erzählt, es hatte noch keinen richtigen Augenblick dafür gegeben. »Was meinst du denn mit ›verschwunden‹?« Natürlich fragte er nach, das taten alle, die uns nicht kannten. Die Leute aus Zagorje, die Kinder, die Fremden, die Bekloppten. »So halt. Im Krieg. Verschwunden.« – »Ach, das meinst du.« Endlich hatte er es begriffen. Dann

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