Hotel Nirgendwo - Roman
herauszuholen. Paar für Paar überreichte er meinem Bruder, das war die größte mit Socken gefüllte Tasche, die ich je gesehen habe. Ganz unten lagen zwei seiner gebrauchten Hemden, die viel zu groß waren. »Du hast ja breite Schultern«, sagte er lachend zu meinem Bruder. »Hier noch etwas für die junge Frau, du bist ja schon eine junge Frau, nicht wahr?«, sagte er und schob mir eine grüne Schachtel auf den Schoß, die in Klarsichtfolie gewickelt war. In der Schachtel befanden sich sechs kleine Seifen verschiedener Farben und Formen. Ich hatte Seifchen bekommen. Jetzt war ich also eine junge Frau. Was hätte ein Kind auch mit Seifen anfangen können. Als das Gespräch im Nichts zu versanden drohte, atmete mein Onkel tief durch und sagte: »Da kann man nichts machen, aus der eigenen Haut kommt man eben nicht raus.« Nach zwei, drei Sekunden sagte ich leise, aber doch laut genug, dass er mich verstehen konnte: »Nun ja, manche Menschen können das schon.« Er drehte sich zu mir um, sah mich an, und sein glattes, frisch rasiertes Gesicht lief langsam, aber sicher rot an. »Ich bin vertrieben worden, sagte er, die einzige Wahl, die ich hatte, war fortzugehen oder getötet zu werden. Jeder kannte mich dort.« Ich dachte schon, er würde ewig so weiterreden, aber er hielt irgendwann doch inne, als sei er mitten im Satz von etwas überrascht worden, und auch ich hielt inne, sah auf den Boden, um Mama und meinem Bruder nicht in die Augen schauen zu müssen. Er brach bald auf, wir verabschiedeten uns voneinander, und als er hinausging, nahm er alles mit, seine Stimme, seine Haltung, seinen Humor.
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Verteidigungsministerium der Republik Kroatien
Büro Ministe r G.Š.
Sehr geehrter Herr Minister,
verzeihen Sie mir, dass ich Ihre kostbare Zeit beanspruche, ich werde versuchen, mich so kurz wie möglich zu fassen. Ich bitte Sie, mir bei der Lösung eines großen Problems behilflich zu sein. Es betrifft unsere Wohnsituation. Ich komme aus Vukovar und bin Mutter von zwei Kindern, mein Mann war Mitglied der Kroatischen Streitkräfte und wurde im Krankenhaus von Vukovar gefangen genommen. Bis heute wissen wir leider nichts über sein Schicksal. Man hat uns in der ehemaligen Politik-Kaderschule in Kumrovec untergebracht, und wir wohnen schon das fünfte Jahr in einem winzigen Zimmer. Mein Sohn ist zwanzig Jahre alt und studiert in Zagreb, meine Tochter ist dreizehn und beendet gerade die achte Schulklasse; sie müsste in eine weiterführende Schule eingeschrieben werden, aber hier in Kumrovec gibt es keine. Einen Wohnungsantrag habe ich bereits 1991 gestellt. Seitdem habe ich nur leere Versprechungen zu hören bekommen, denn wir wohnen noch immer in dem Zimmerchen in Kumrovec. Herr Minister, wir haben uns bereits einmal an Sie gewendet, ebenso haben wir versucht, mit unserem Präsidenten in Kontakt zu treten, und Sie können uns glauben, unser Glück wäre grenzenlos, wenn Sie Zeit fänden, ein Empfehlungsschreiben an die Wohnungskommission zu schreiben, damit man uns eine Bleibe zuteilt. Auf Ihr Wort wird man dort sicher hören. Unseren Herrn Präsidenten haben wir am 12. Juni 1995 geschrieben, Ihnen am 23. November 1995, das können Sie alles überprüfen. Man hat uns damals von der Wohnungskommission ein Schreiben geschickt, in dem es hieß, die Zuteilung von Wohnraum würde erfolgen, sobald leere Räumlichkeiten vorhanden wären. Seitdem sind mehreren Bekannten von uns Wohnungen zugeteilt worden. Herr Minister, einmal bin ich auch bei Ihnen persönlich vorstellig geworden, mehrere Ehefrauen und Mütter aus Vukovar waren damals mit mir gekommen, und ich habe mir Ihre unter Tränen ausgestoßenen Worte sehr genau gemerkt: »Verlangen Sie nicht das Unmögliche von mir, das Mögliche aber – und das sind Ihre sozialen Belange – steht durchaus in meiner Macht und Verantwortung.« Die Erinnerung daran hat mir Mut geschenkt, mich noch einmal an Sie zu wenden und Ihnen diesen Brief zu schreiben, denn ich weiß nicht, was ich sonst noch tun soll. Es fällt mir schwer, meine traurigen Kinder so aufwachsen zu sehen, ich denke, nach dem Verlust ihres Vaters haben sie allemal ein Leben in Würde verdient, zumindest verdienen sie Hilfe, bis sie sich eines Tages selbst helfen können.
Ich bedanke mich im voraus bei Ihnen.
A. B.
Verteidigungsministerium, p.p. 21 Kumrovec
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Wohnungskommission
An den Vorstand
Zu Händen von Frau I.P.
Sehr geehrte Fra u P. ,
mir ist durchaus bewusst,
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