Hotel Nirgendwo - Roman
mir das merken, ich bin doch nicht senil«, sagte ich und blinzelte in den Raum hinter der Tür hinein. Das waren alles Sachen, die ich in meinem neuen Zuhause benötigen würde.
Um meine Anmeldung hatten wir uns schon gekümmert, und wir hatten das Pflichtgespräch mit der Schulleiterin hinter uns gebracht, Probleme waren nicht absehbar, ein Platz im Heim stand mir zu und weil mein Vater verschollen war, hatte ich sogar Vorrang. Eine Vertriebene. Das bin ich, dachte ich. Ich bin jemand, der keine Wohnung hat. Weil ich aus Vukovar komme. Wer kann das schon überbieten?
Während Mama im Schulzimmer mit jemandem sprach, beobachtete ich die Mädchen auf dem Flur. Sie machten nicht gerade einen interessanten Eindruck auf mich, sie sahen vielmehr verschreckt und irgendwie armselig aus. Die Schülerinnen, die hier im Wohnheim lebten, waren nicht auf dem Flur zu sehen, es war Sommer, mitten in der Ferienzeit, und sie waren, so sagte man uns, alle nach Hause gefahren. Aber sie hatten an ihren Zimmertüren Spuren hinterlassen, die sie irgendwie doch anwesend machten und jedem mitteilten, dass sie hier lebten und dass sie verdammt wichtig waren. An ihren Türen sah ich Poster der Ramones, Aufkleber in Herzform und mit Bärchen, Bilder von Stöckelschuhen, die sie aus Zeitungen ausgeschnitten hatten. Es gab also solche und solche hier. Welche von diesen Mädchen wird wohl meine Zimmergenossin sein? Diese Frage beschäftigte mich, aber noch konnte ich nichts darüber in Erfahrung bringen. Die Zimmer würden uns erst am Tag unseres Einzugs zugeteilt werden. Marina, Vesna und Božana kamen in ein Heim am anderen Ende der Stadt, ich wusste nicht einmal, welche Straßenbahn dort hinfuhr und auch nicht, wie ich das herausfinden könnte. Weder die Straße noch die Hausnummer waren mir bekannt. Ich war diesem Heim zugeteilt worden, weil es näher an meiner Schule lag. Aber von nah konnte keine Rede sein, denn ich musste die Straßenbahn nehmen und dann noch eine ganze Weile zu Fuß gehen. Mama und ich liefen den Weg von der Schule zum Heim einmal zur Probe, aber ich konnte mir nichts merken und hätte mich allein nie zurechtgefunden, selbst Mama musste den Straßenbahnfahrer nach dem Weg fragen.
Wir schrieben uns alle in verschiedenen Schulen mit touristischer oder ökonomischer Ausrichtung ein. Ich wollte unbedingt auf eine weiterführende Schule gehen, zum einen, weil ich immer die besten Noten gehabt hatte, und zum anderen, weil schließlich sogar mein Bruder das Gymnasium beendet hatte. Und wenn ich es ihm gleichtat, würde er hoffentlich endlich aufhören, mich als dumm zu bezeichnen. – »Vielleicht wäre eine Touristikschule besser für dich? Du könntest Sprachen lernen, und wenn du später studieren willst, kannst du mühelos an die Uni, aber wenn du keine Lust hast, ist es auch gut.« – »Nein«, sagte ich, »ich will auf ein ordentliches Gymnasium!« Dann gewann ich den zweiten Platz in einem landesweiten Wettbewerb, den das Europa-Heim in Zagreb ausrichtete. Man musste einen Aufsatz schreiben und das Thema war: »Wir bauen ein Haus aus Sonnenstrahlen und Kinderlächeln!« Europa. Sonne, Kinderlächeln, ein Haus, alles Themen, die mir nahe waren, ich legte sofort los, denn ich hatte zu alledem etwas zu sagen. Die Kunst des feinen Pathos beherrschte ich ausgezeichnet, hochtrabende Worte flossen mir nur so aus der Feder, und ich wusste genau, was man hören wollte. Ein optimistischer Blick in die Zukunft war gefragt, niemand wollte etwas von Schuld und Verantwortung wissen, schon gar nicht Details aus meiner eigenen armseligen Vergangenheit. Das kam vor allem bei den Erwachsenen gut an. Meine Kroatischlehrerin hatte mich schon früher dazu angetrieben, Aufsätze zu allen möglichen Anlässen und für verschiedene Schülerzeitschriften zu schreiben. Die Themen waren vielfältig, hatten aber letztlich alle etwas mit Vertreibung zu tun. Die Leute liebten alles, was ich schrieb, vor allem die Lehrer. So machte mich die Lehrerin auch irgendwann auf diesen Wettbewerb aufmerksam, und die Antwort traf bereits nach wenigen Wochen ein. Ich hatte also den zweiten Platz in einem landesweit ausgerichteten Wettbewerb eingenommen. Die ersten drei Gewinner durften sich ein Gymnasium aussuchen und erhielten zusätzlich ein Kilogramm Orangenbonbons und ein kroatisch-serbisches Wörterbuch, das die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen auflistete. Mama rief Onkel Grgo an und fragte ihn, welches Gymnasium in Zagreb das beste war. »Das
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